Ödipus und Nachfolge

Jonas Hartmann verbindet in seiner Arbeit »Ödipale Konflikte am Beispiel der Nachfolge in Familienunternehmen« die Freudschen Theorien mit den Generationsübergängen.

Seine Überlegungen stellen die psychoanalytischen Elemente der dreifachen Position und die drei ödipalen Herausforderungen der Familiendynamik gegenüber. Neben den theoretischen Verknüpfungen ist vor allem sein Schlusskapitel »Triangularität in Familienunternehmen« überaus lesenswert, ich veröffentliche es hier in Auszügen mit seiner Erlaubnis.

Unternehmerische Übergänge und personelle Wechsel gehen immer mit einem gewissen Konfliktpotenzial einher. Besonders bei Generationswechsel innerhalb von Familienunternehmen führen Rollenunklarheiten und unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen der Beteiligten zu Konfliktpotentialen, die einen Übergang schwierig gestalten können. Mal abgesehen von grundsätzlichen Voraussetzungen für einen gelungenen Generationswechsel innerhalb eines Familienunternehmen, wie eine solide und fundierte akademische Ausbildung, Produktkenntnisse und Führungsqualitäten, ist es wichtig, die beiden Systeme der Familie und des Unternehmens in Einklang zu bringen.

Familien und Unternehmen spalten sich in zwei unterschiedlichen Wertesystemen auf. Diese Systeme mit unterschiedlichen Logiken können durch ihre Verbindung im Familienunternehmen zu existenziellen Konflikten führen.

1) auf der einen Seite die Familie, als Werte dominiertes, wirtschaftsfreies Sozialsystem

2) auf der anderen Seite das Unternehmen als Organisation des Wirtschaftssystems mit Ausrichtung auf Funktionalität, Rationalität mit funktionalen Zweck-Mittel-Mechanismen.

Dabei verschwimmen die Grenzen dieser beiden Systeme durch permanente Rollenwechsel ihrer Schlüsselfiguren (vgl. Eigen, 2007, S. 393). Wenn man von einer klassischen Konstellation ausgeht, in der der Vater/ die Mutter das Unternehmen an den Sohn/ die Tochter übergibt, müssen diese zwei Rollen gleichzeitig ausfüllen: die Rolle des potenziellen Nachfolgers des Unternehmens und die des Sohnes/ der Tochter. Die Funktionalität des Unternehmens muss trotz der Koexistenz der beiden Systeme gewährleistet bleiben. Bei der Unternehmung sind Abläufe oft formalisiert und zweckgebunden - zum Beispiel in der Produktentwicklung, im Vertrieb oder in der tatsächlichen Herstellung (…)

Bei der Nachfolge im Familienunternehmen kommen die oben genannten ödipalen Herausforderungen und deren Auswirkungen zum Tragen und können zu Konflikten führen. Durch die Weitergabe von Werten und Normen in der Introjektion gibt der Vater oder die Mutter bestimmte Muster und Vorstellungen in der Führung des Unternehmens weiter. Diese werden von der Tochter oder dem Sohn nicht einfach übernommen und weiter ausgeführt, sondern müssen wie bei der eigenen Persönlichkeitsentwicklung reflektiert und weiterentwickelt werden, um bestimmte Muster und Familiendynamiken zu erkennen oder sogar zu überwinden.

Allerdings geht dieser Übergangsprozess auch oft mit Konflikten und Auseinandersetzungen einher. Für die Funktionsfähigkeit des Unternehmens in der Übergangsphase ist es notwendig, dass eine gewisse Stabilität im Bereich des sozialen Umgangs mit den Angestellten und Geschäftspartner gewährleistet ist. Gleichzeitig muss sich die nachfolgende Generation als Führungspersönlichkeit etablieren und einen eigenständigen Führungsstil entwickeln, der sich auch auf eventuelle Änderungen am Markt einstellen kann - wie zum Beispiel eine zunehmende Digitalisierung oder eine Ausweitung auf internationale Märkte.

Dabei spielt auch die Identifikation der Nachfolger*innen mit dem Unternehmen eine wichtige Rolle. Wenn sie sich der Reflexion stellen, müssen Sie sich mit ihrem Verhältnis zum Unternehmen im Hinblick auf ihre elterliche Prägung auseinandersetzen, was eine Identifikation mit ihrer Rolle als Führungskraft im Unternehmen bedeutet. Dabei müssen die Nachfolger*innen auch mit Konzepten und Vorstellungen der Eltern brechen und ihre eigene Rolle im Unternehmen definieren, es wird ihnen ein hoher Grad von Reflexions- und Durchsetzungsvermögen abverlangt. Sie müssen in der Lage sein, zwischen ihren Rollen als Kind im familiären Zusammenhang und ihrer Rolle als Nachfolger*in im Unternehmen zu differenzieren, um eine Unabhängigkeit zu erreichen, wie es auch bei der Überwindung der ödipalen Konflikte in der Persönlichkeitsentwicklung der Fall ist. Wenn dies gelingt, werden sie innerhalb des Unternehmens anerkannt und können das Unternehmen vor dem Hintergrund ihrer eigenen Vorstellungen gestalten und lenken (…)

Außerdem spielen, anders als bei Überwindung von ödipalen Herausforderungen in der Familie, zusätzlich auch finanzielle Konsequenzen ebenfalls eine sehr große Rolle. Falls schwerwiegende Fehler passieren, kann dies zum finanziellen Ruin des Familienunternehmens führen und damit auch zum Verlust der Existenzgrundlage der Familie. Außerdem haben sich innerhalb der Unternehmenskultur - wie auch in der Familie - bestimmte Dynamiken und Rollenverteilungen herauskristallisiert, die es gilt zu reflektieren und zu bearbeiten, um Veränderungsprozesse voranzutreiben.

Insgesamt spielen also alle drei ödipalen Herausforderungen eine zentrale Rolle bei Nachfolgeprozessen innerhalb von Familienunternehmen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die meisten dieser Prozesse unbewusst und parallel miteinander ablaufen. Sie lassen sich nicht trennscharf abgrenzen, da sie wie in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ineinander übergehen oder gleichzeitig ablaufen können.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich die triangulären Muster und Rollenvorstellungen, aller Teilnehmer in der Familie zum größten Teil auf das Familienunternehmen übertragen lassen. Die Rolle der Nachfolger*innen ist wie die Rolle des Kindes in der Familie immer wieder Aushandlungsprozessen ausgesetzt, die eigene Position muss ständig weiterentwickelt beziehungsweise gestärkt werden. Selbst wenn der Prozess der Nachfolge formal abgeschlossen ist, sind familiäre Dynamiken und Muster, die auch aus den genannten Rollenvorstellungen erwachsen, weiter vorhanden. Formal muss zwar keine Rechenschaft für Entscheidungen im Unternehmen gegenüber der vorherigen Generation abgelegt werden, allerdings sehr wohl im familiären Zusammenhang.

Zwar liegt die Unternehmensleitung dann in der Hand der Nachfolge-Generation (der sogenannten Next Gen), trotzdem muss diese in einem fortlaufenden Prozess gegenüber der Familie beweisen, dass sie dieser Aufgabe gerecht wird und das unternehmerische Erbe erfolgreich weiterführen kann. Es vermischen sich finanzieller und unternehmerischer Erfolg mit familiären Erwartungen, die schwierig zu trennen sind oder sogar konträr zueinander laufen können. So kann zum Beispiel das Unternehmen von den Nachfolger*innen erfolgreich umstrukturiert werden - allerdings nicht im Sinne der vorherigen Generation, die zum Beispiel der Jobsicherheit der Mitarbeiter eine viel größere Priorität eingeräumt hat. Zwar steht das Unternehmen finanziell im Wettbewerbskontext gut dar, trotzdem sehen die Eltern die neue Konzeption des Unternehmens als eine Art Verrat an den eigenen Wertvorstellungen als Unternehmer*in (…)

Durch Idealisierung, Introjektion und Identifikation werden Positionen und Vorstellungen der Eltern vielfach unreflektiert übernommen, es wird kein kritischer Geist entwickelt. Dieser wird aber vor allem in der unternehmerischen Leitung dringend benötigt, um sinnvolle, zukunftsorientierte Entscheidungen zu treffen, um zum Beispiel das Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten. Auch in der personellen Führung wird Autorität und Selbständigkeit verlangt, um sich gegenüber seinen Mitarbeiter zu behaupten und deren Anerkennung als Chef zu erhalten. Somit ist, neben der fachlichen und akademischen Ausbildung, die Entwicklung eines unabhängigen und kritischen Geistes genauso wichtig für die Nachfolge in einem Familienunternehmen.

Anzumerken wäre in diesem Zusammenhang allerdings, dass Freud immer von einer Überwindung des ödipalen Konfliktes spricht, an deren Ende ein reflektiertes Individuum steht, das eigenständige Entscheidungen trifft. Allerdings muss man die Familiendynamiken und Strukturen, die aus ödipalen Konflikten entstehen können, als dynamischen Prozess verstehen, es wird immer Rollenzuschreibungen und Musterwiederholungen geben. Entscheidend ist hierbei nicht deren Auflösung oder die komplette Abgrenzung von Unternehmen und der Familie, da dies unmöglich ist. Vielmehr geht es darum - wie auch in der Persönlichkeitsentwicklung -, sich dieser familiären Muster und Dynamiken bewusst zu werden und diese zu reflektieren, um auf dieser Erkenntnisgrundlage fundierte Entscheidungen zu treffen, die der eigenen Führungspersönlichkeit entsprechen.

Eine lebenslange Auseinandersetzung, die der ständigen Auffrischung bedarf und unerlässlich ist, um als Nachfolger*in und Unternehmer*in zu bestehen. Dies bedeutet, ähnlich wie bei Freud, dass nicht alle Einstellungen und Wertvorstellungen der vorherigen Generation missachtet werden, sondern die eigene unternehmerische Richtung entwickelt wird auf der Grundlage der eigenen Erfahrungswelt. Es wird deutlich, dass eine Trennung von Persönlichkeit und Unternehmer*in unmöglich ist, vielmehr bedingen sich diese beiden Bereiche gegenseitig (…)