Prolog

Beitrag vom 10.11.2023

Meine Geburt löste große Heiterkeit aus. Vor allem beim Betriebsrat. Zu Beginn der 1960er-Jahre war der Tag meiner Geburt ein besonderer Tag. Ein Jahr nach dem Mauerbau veranstaltete Ost-Berlin eine Militärparade, im Westen sprach Bundespräsident Heinrich Lübke vor dem Reichstagsgebäude. Auf dem Plakat des Deutschen Gewerkschaftsbundes waren Hände mit Stacheldraht und dem Slogan »In Frieden arbeiten - in Freiheit leben« zu sehen.

Der Stammhalter, der erste Sohn des Chefs, kam am ersten Mai zur Welt. Ein Tag der Arbeit für meine Mutter, so wurde vermutet. Väter waren bei der Geburt noch nicht erwünscht.

30 Jahre später fand ich in der Andreas-Mappe meines Vaters eine Karte. Er ordnete die Schriftstücke chronologisch umgekehrt, oben lag das Aktuelle. Die Karte lag fast ganz unten, darunter nur noch meine Geburtsanzeige Der Mai ist gekommen und mit ihm unser Andreas. Auf der Karte sitzt ein Junge an einem großen Schreibtisch. In der einen Hand ein Telefonhörer, in der anderen eine Zigarre, deren Rauchschwaden noch oben aus dem Bild ziehen. Daneben ein großer Stapel Papier, einige Briefe fallen vorne herunter. Auf drei Papieren ist mit roter Druckschrift liebevoll ein Briefkopf ergänzt worden: Knierim & Co. Eine Nuckelflasche steht neben dem Telefonapparat, ebenfalls groß. Der Sessel, auf dem der Junge sitzt, ist rot und deutlich ein Chefsessel, mit ausladenden Armlehnen. Der Junge lacht nicht wirklich ein entspanntes Lachen, es wirkt ein wenig verstellt. Darunter stand: Herzlichen Glückwunsch zum Junior-Chef!

War das nun eine Bürde oder eine Prophezeiung?