Kapitel 9: Kundenabwehrdienst
Beitrag vom 12.01.2024
Schon als Kind lernte ich, dass der Kunde König ist. Oder manchmal eben nicht ist. Samstags fuhren wir in die »Stadt«, was die Innenstadt von Kassel meinte. Wir lebten zwar in der Stadt Kassel, doch »Stadt« wurde synonym mit »Einkaufen« verwendet.
Heute ging es nicht in einen inhabergeführten Laden (bei meinem Vater »Eisen, Speck und Musikalien«), sondern wir wollten bei Neckermann am Königsplatz einkaufen. Wir brauchten Beratung. Ein Angestellter wurde zwischen den Regalen ausfindig nach längerer Suche gemacht. Wir brachten uns Gebaren vor, der Verkäufer deutete mit dem Zeigefinger vage in eine Richtung jenseits des Ganges. Und verschwand. Mein Vater schaute ihm beim Verschwinden zu und kommentierte: »Das war wieder einer vom Kundenabwehrdienst.«
Dieser Dienst existierte bei Domo nicht. Würde sich ein Architekt oder Bauherrn in der Republik mit dem Gedanken beschäftigen, in sein Objekt auch Toilettentrennwände einzubauen (was vorkam), dann war ein Außendienstler magischerweise schon vor Ort und klingelte an der Tür. Jeder könnte ein Kunde sein und so begegnete mein Vater seinen Mitmenschen möglichst oft als Dienstleister.
Steve Jobs hatte, so hörte ich, jeden Mitarbeiter sofort entlassen, der von »Problemen« sprach. Mein Vater entließ nicht, nahm sich der Probleme an und machte sich sofort selbst an die Lösung. Schrecklich, wenn ein Kunde ein Problem hatte und noch schrecklicher, wenn Domo dieses nicht lösen konnte. Gab es kein passendes Produkt, so erschuf der Chef einfach ein Neues.
Oft sah ich meinen Vater am Schreibtisch beim Erschaffen sitzen. Die neuen Lösungen waren keine Erfüllung von Sonderwünschen (so ein Wort, das es im Wortschatz eines Domo-Angestellten besser zu vermeiden galt). Sondern es waren industriell zu fertigenden Produkte mit Stückzahlen, die eine ökonomische Zufriedenheit erzeugten.
Der, damals kleine, Andreas beobachtete seinen Vater sehr genau. Wusste früh, was es bedeutet, Kunde zu sein. Wie bedeutsam es sein kann.
Foto via Wikicommens Stadtarchiv Köln