Kapitel 7: Äpfel aus dem Garten

Mein Vater rief an. Später Nachmittag. Er wollte meine Mutter sprechen. Ich legte den Hörer zur Seite und ging sie suchen. Sie war, wie oft am Nachmittag, im Garten. Ich schlug einen bestimmten Weg ein, um sie schnell zu finden.

Weg vom Telefon in der Küche, durch die Eingangstür nach draußen auf die Zufahrt mit Waschbetonplatten. Bei Öffnen der Tür fiel mein Blick auf den Riegel mit Kette. Er war nicht oben befestigt, sondern ganz unten, fast versteckt unter einem Vorsprung. Mein Vater hatte ihn selbst angebracht. Ganz verschämt saß er dort, wurde nicht benutzt. Eine Sicherheitsmaßnahme im Kopf des Vorsitzenden der Arbeitgeberverbände in Nordhessen.

Rechts um die Ecke am Zaun entlang. Meine Mutter hatte inmitten von lauter Nachbar-Ziergärten an verschiedenen Stellen einen Nutzgarten angelegt, der sie jeden Tag beschäftigte. An der Mauer, in einem Eimer, der selbstangerührte Dünger aus angesetzter Brennnesseljauche. Unerträglicher Gestank, hoch wirksam. Wieder rechts, jetzt war ich hinter dem Haus. Kleines Beet mit Erdbeeren. Meine Mutter nicht in Sicht. Weiter um die Ecke, links im Beet Bohnen, die am Drahtzaun rankten. Der Zaun war eine Eigenproduktion aus dem Werk meines Vaters. In der hintersten Ecke hatten die, exakt zu gleichmäßig Waben gebogenen Drähte auch das alte Firmenschild Knierim + Co bekommen. Silberne Buchstaben auf schwarzem Grund, eine fünfstellige Telefonnummer plus Vorwahl darunter. Das fünf mal zwei Zentimeter kleine Schild hätte, vom Style her und entsprechend vergrößert, auch als Grabmalplatte dienen können. Den alte Firmennamen somit beerdigen, geboren waren die Kinder Domo und, ein Nachzügler, Knierim GmbH & Co KG.

Ich war im Herz des Nutzgartens angekommen. Möhren, Zwiebeln, Salat, auch Kartoffeln. Da stand meine Mutter, den kleinen Spaten in der lederbehandschuhten Hand. Sie trug eine kurze Lederjacke - die Gartenjacke, die nachts in der Garage hing. Auf dem Kopf eine Männer-Pudelmütze. Sie freute sich über meinen seltenen Besuch zu dieser Tageszeit, lächelte mich an.

Der kleine Spaten hatte, das fiel mir interessanterweise jetzt ein, schon letzte Woche für ein großes Kompostloch gedient. Dort entsorgte meine Mutter auch unser Altpapier. In das, aus unerfindlichen Gründen, das Halbjahreszeugnis meines Bruders aus der Grundschule geraten war. Nachdem wir überall gesucht hatten, erinnerte sich meine Mutter, öffnete das Kompostgrab und exhumierte den Giftzettel.

Es dauert sechs, sieben Minuten, bis wir wieder in Küche angekommen waren. Der Hörer hatte neben dem grauen Apparat geruht. Das Gespräch war nur kurz. Mein Vater brachte Geschäftsfreunde mit, meine Mutter sollte etwas vorbereiten. Diese wertvolle Information musste direkt an die Ehefrau im Telefonat gegeben werden, der erstgeborene Sohn konnte nichts ausrichten.

Gegen sieben Uhr abends trafen die Gäste ein. Der Mercedes rollte rückwärts über die Einfahrt bis vor die Garage, alle stiegen aus. Das Garagentor fuhr stockend nach oben, der Zugmotor schwächelte, die Kette hätte mehr Spannung gebraucht. Mein Vater hatte auf eine Fernbedienung gedrückt, ein schwarzer Kasten mit einem Knopf in Orange. Der in der Mittelkonsole lag und dort immer blieb. Eine exakte Kopie der Box befand sich in der Diele, um das Tor wieder zu schließen. Dort war ein Spiegel angebracht, die Fernbedienung auf dem Sideboard darunter. Jeder, der drückte, betrachtete sich zuerst in diesem Spiegel: Willst Du wirklich das Tor öffnen? Bedenke die Konsequenzen!

Das Tor war endlich oben, eine klare 25-W-Kerzenglühlampe leuchtete auf und zeigte den Innenraum der Doppelgarage. Der, noch leere Platz für den Mercedes, daneben der Wagen meiner Mutter, der rote Roadster Honda Civic CRX. Dahinter an der Wand waren die Gerätschaften für den Garten an Haken aufgereiht. Diese klemmten die Griffe ein, Schaufeln, Besen, Spaten und Mistgabeln hingen fast schwerelos in der Luft. Außerdem zwei Sprudel- und ein Bierkasten. Der Haken der Gartenjacke noch leer. Wo war meine Mutter?

Mein Vater parkte, schloss auf, die Gäste legten in der Diele ab. Blickten in den Innenhof. Eine architektonische Besonderheit. Ein Garten im Garten, einen halben Meter höher als das übrige Grundstück. An drei Seiten angrenzend zum Haus, eine Seite mit Milchglasscheiben zum eigentlichen Garten. Unter diesen geriffelten Milchglasscheiben ein fünfzehn Zentimeter hoher Spalt. Unsere Schildkröte Happy lief tagsüber immer wieder an diesem Spalt entlang, in der Hoffnung, dass er vielleicht am Ende größer wurde, um in den ersehnten Garten der Freiheit zu flüchten. Der wurde nicht größer, sie drehte um und versuchte es auf der anderen Seite. Unsere Schildkröte hatte ein Eichhörnchengedächtnis. Ein Jahr später fand ich den leeren Panzer, ihr Innerstes hatte einen Weg nach draußen gefunden.

Vier Schiebetüren konnten mittels Hebeln geöffnet werden, Innenhof und Garten verschmolzen zu einer Einheit. Die Anzug-und-Krawatte-Träger wanderten über das Wohnzimmer in das Arbeitszimmer meines Vaters. Die elektrischen (!) Fensterheber wurden bedient, auf halbe Höhe gestellt, von außen sollte nichts sichtbar sein. Am Tisch wurde weiter gearbeitet. Es gab Weißwein.

Ich beobachtete aus dem Innenhof die Szenerie, die Glasscheiben von Diele, Ess- und Wohnzimmer wie drei verschiedene Bühnen. Meine Mutter kam aus dem Garten herein, betrat Bühne eins. Sie hatte einen kleinen, etwas schmutzigen Eimer in Hand. Frisch geerntete Äpfel waren darin, am Stiel noch winzige Blätter. Sie trug ihre Lederjacke und die, mit Erde bedeckten Schuhe. Das war etwas untypisch, die Jacke ja sonst am Garagenhaken. Ich sah sie erstaunt an. Sie lächelte wieder, doch diesmal etwas anders als im Gemüsebeet vorher.

Auch meine Mutter ging, wie die Anzugträger vorher, über die Bühne zwei (Wohnzimmer) auf die Bühne drei (Arbeitszimmer meines Vaters) und ließ eine kleine Spur getrockneter Erde auf dem Perserteppich. Sie begrüßte die Gäste, lächelte, drehte eine Runde um den Tisch und bot Äpfel aus dem hingehaltenen Eimer an. Die Geschäftsfreunde griffen zu.

Mehr gab es an diesem Abend nicht, meine Mutter hatte genau das, wie von meinem Vater gewünscht, »vorbereitet«. Ich verließ meinen Logenplatz im Innenhof, ging in die Küche und nahm mir aus dem, inzwischen angekommen Eimer ebenfalls einen Apfel. Lächelte meine Mutter an. Sie lächelte zurück. Und zog ihre Lederjacke aus.