Kapitel 6: Kaufmann

In der Grundschule wurde ich von meinen Mitschülern und Lehrern gefragt, was mein Vater »von Beruf ist«. Ich wusste keine Antwort. Hatte eine vage Vorstellung, dass er jeden Tag zu einer Arbeit fuhr und schon etwas machte, irgendwie.

Dass es mit Schreiben zu tun hatte, er schrieb viel an seinem Schreibtisch. In einem braunen Lederkoffer lagen schmale Ordner und Mappen. Jeden Tag nahm mein Vater diesen Koffer mit, an den Seiten war er verschrammt. Die Schlösser klackten lustig, wenn ich den kleinen Hebel zur Seite drückte und sie aufsprangen.

Ich fragte meine Mutter: »Was hat Papa für einen Beruf?« Sie blieb wortkarg, so kannte ich sie gar nicht. Am Abend gab es ein Gespräch am Esstisch. Jeder hatte dort seinen Platz. Mein Vater links neben mir. Rechts am Kopfende mein Bruder. Gegenüber meine Mutter. Daneben meine Schwester. Mein Bruder kippelte gerne mit dem Stuhl, balancierte ihn auf zwei Beinen. Fiel nie nach hinten. Ich schon. Die Stühle hatten, wie der Tisch, braune Holzbeine, die Sitzfläche aus schwarzem Leder.

An diesem Abend kippelte keiner von uns, es war auch noch nichts zu Essen auf dem Tisch. Der Beruf wurde erklärt. Mein Vater ist: »Kaufmann«. So sollte es allen Mitschülern und Lehrern in Schule gesagt werden. Was ich am nächsten Tag auch tat. Ich erntete Belustigung: »Hat er einen Edeka-Laden?« Die Vorstellung, dass ein Kaufmannsladen-Besitzer eine Villa bewohnte, war wohl zu abwegig.

Du bist wie die anderen. Die Herkunft und die Überzeugung meiner Eltern spiegelte sich in meiner Erziehung wieder. Nie wurde das von meinen Eltern gesagt, doch immer so gehandelt. Mit dem Internat gedroht, wenn es in der Schule schlecht lief. Doch das waren leere Drohungen, was sollte ich in so einer elitären Institution?

Rechts und links der Einfahrt zu unserem Grundstück standen zwei gemauerte Boxen. In der einen war die Mülltonne abgestellt, in der anderen der große Briefkasten für die regionale Hessische Allgemeine und die F.A.Z.. Daneben das Klingelschild mit Namen und die Sprechanlage. Mitte der 1970er-Jahre verschwand dieses Schildchen, das Tor wurde nun schon am frühen Abend geschlossen. »Terroristen« kannte ich nur von den Plakaten im Postamt, eine Verbindung zu diesen Ereignissen stellte ich erst zwanzig Jahre später her: Die Rote Armee Fraktion hatte sich radikalisiert. Und entführte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. 

Am Montag, den 5. September 1977 wurde der Mercedes von Hanns Martin Schleyer, dem Arbeitgeberpräsident und ehemaligen SS-Untersturmführer, beschossen. Die Entführer flohen mit dem unverletzten Schleyer. In der Tagesschau sahen wir später sein Bild mit dem RAF-Stern und der Tafel »Seit 20 Tagen Gefangener«. Ganz still war es im TV-Wohnzimmer. Bundeskanzler Helmut Schmidt gab den Forderungen der Erpresser nicht nach. Schleyer überlebte es nicht, seine Leiche wurde im Kofferraum eines Audi 100 in Mülhausen im Elsass gefunden. Unser Eingangstor blieb nun auch tagsüber zu, wurde nur zum Rein- oder Rausfahren kurz geöffnet.

Am Morgen des 30. Novembers 1989 detonierte eine, auf einem präparierten Fahrrad am Straßenrad abgelegte Bombe und zerstörte den Mercedes-Dienstwagen von Alfred Herrhausen, dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank. Genau gegenüber der Taunustherme der Wickergruppe. In dieser Therme waren die Sanitäranlagen meines Vaters zu finden. Er und Werner Wicker kannten sich. Dieses Detail betonte mein Vater nach dem Studium der F.A.Z. 

Bis weit in die 1990er-Jahre blieb unsere Villa ohne Namensschild. Mein Vater engagierte sich weiter in Nordhessen, wurde Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes. Kinder von Edeka-Marktbesitzern wurden nicht entführt, aber vielleicht Unternehmerkinder. Mein Vater war also besser »Kaufmann«.

Bild von Bundesarchiv, B 145 Bild-F044137-0029 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link