Kapitel 5: Samstags gehört Vati mir

Sechs Jahre vor meiner Geburt rief der Deutsche Gewerkschaftsbund zur 5-Tage-Woche auf. Es gelang. Fünf Jahre nach meiner Geburt wurde in der Metallindustrie die 40-Stunden-Woche beschlossen.

Acht Jahre nach meiner Geburt gehörte Vati samstags mir und meinem Bruder. Am schulfreien ersten Samstag im Monat nahm er uns mit in die Firma. Es war sein 6. Tag in der 60-Stunden-Woche. Wir bekamen jeder ein 50-Pfennig-Stück und seinen Schlüsselbund. Gingen vom ersten Stock im zweiten Treppenhaus nach unten, den langen Gang entlang. Schlossen die erste Tür auf. Die Zweite. Fanden den Lichtschalter im fensterlosen Raum. »Blink-Blink« des Neonlichtes. Brummen des Kühlschrankes.

Auf dem Geldstück betrachteten wir den Mann, der gerade ein Bäumchen pflanzte. Dann verschwand der Mann im Geldschlitz. Rechts und links am Getränkeautomaten gab es helle Stellen. Wir hatten mal beobachtet, wie Erwachsene den Automaten bedienten. Das 50-Pfennig-Stück rauschte nach unten durch und landete im Fach mit der Bezeichnung »Geldrückgabe«. Sie nahmen das Geldstück heraus, rieben es rechts oder links neben Geldschlitz. Warfen es wieder ein, jetzt blieb es im Automaten. Freie Auswahl.

Bei uns klappte es immer gleich beim ersten Einwerfen. Drücken des Wahlschalters. Es rumpelte. Eine Flasche landete im gepolsterten Ausgabefach. Mein Bruder zog sie hervor. Orange. Fanta für ihn. Es rumpelte wieder. Grün. Sprite für mich. Bei Coca-Cola hätten wir Ärger bekommen.

Mit unserer Wegzehrung gingen wir über das erste Treppenhaus wieder nach oben. Wären wir über das andere Treppenhaus gegangen, hätte uns der Vater durch die Glastür sehen können. Doch hier waren wir ungestört. Im ersten Stock gingen wir nach rechts ins Zeichenbüro und schauten in die Schreibtischschubladen: Besteck und Teller aus der Kantine. Ein Büroklammerspender mit magnetischem Loch, das immer neue Klammern nach oben beförderte. Eine Flasche mit Gummilasche, aus der Kleber floss, wenn man sie auf den Kopf stellte.

Ganz unten eine Wasserflasche aus dem anderen Automaten; 10 Pfennig eingeworfen, eine Glasluke nach unten ziehen, Flasche entnehmen, Glasluke wieder nach oben schließen. Hatte ein Schlunz die Luke bei vorherigen Kauf nicht geschlossen und warf man 10 Pfennig ein, schloss zuerst die leere Luke – dann war das Geld weg. Pech.

Wir gingen noch einmal nach unten: Am Haupteingang an der Tür hatte jemand einen roten Aufkleber hinterlassen. Eine Sonne in Gelb ging hinter einer 35 auf. »Die Zeit ist reif« lasen wir. Die Oberfläche des Aufklebers war abgewetzt vom vielen Ziehen des Griffes. War die Zeit wirklich schon reif? 

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