Ich hatte bei der Gemeinde, bei der mein Vater wahrscheinlich dreißig Jahre Kirchensteuer entrichtet hatte, kurz vor Weihnachten angerufen.
Auf dem kleinen Friedhof in Kirchditmold lag bereits meine Mutter, das Grab daneben war reserviert. Was fehlte, war die Trauerfeier. Und der Pfarrer. Er begrüßte mich mit den Worten: »Es ist Weihnachten. Sie haben ja keine Ahnung, was hier gerade los ist«. Am liebsten hätte ich, ganz im Sinne des Humors meines Vaters, geantwortet: »Mein Vater ist gestorben. Sie haben ja keine Ahnung, was hier gerade los ist.« Doch mir fiel diese Pointe nicht ein.
Es kam schließlich der junge Stellvertreter des Pfarrers aus der Nachbargemeinde. Ein Glücksfall. Genau wollte er wissen, wer da gestorben war, sich vorbereiten. Bei den Gesprächen ahnte er wohl, dass es voll werden würde in der Kirche. Und so kam es.
Ich stand draußen mit meiner Frau und begrüßte die Trauergäste. Es war überwältigend. Bestimmt dreißig seiner Mitarbeitenden drückte ich die Hand, alle duzten mich wie immer. In ihren alten Gesichtern sah ich echte Trauer, sie hatten, wie ich, auch ihren Vater verloren.
In der Kirchditmolder Kirche sprach der junge Pfarrer, dann der Vorsitzende der Arbeitgeberverbände, dann ich: »Danke, dass Sie alle heute gekommen sind, um meines Vaters zu gedenken. Es ist mir eine Ehre, hier über meinen Vater erzählen zu dürfen. Jeder, der ihn gekannt hat, kennt Geschichten von und über ihn. Und erinnert sich so an ihn.
Was habe ich meinem Vater und meiner Mutter zu verdanken? Mich einbringen ins Leben. Mein Leben zu leben. Abitur, Studium, Promotion, eine Arbeit, die ich liebe, eine Frau und einen Sohn, die ich liebe. Das alles habe ich der Unterstützung meiner Eltern zu verdanken, die mir auf die Welt geholfen haben. So einfach ist das.
Was habe ich von meinem Vater gelernt? Zuerst einmal: das Reisen. Als Knirps schon Skifahren zu dürfen, hoch oben in den Bergen. Als Jugendlicher auf den Pyramiden der Mayas in Mexiko zu stehen. Und auf der Dachterrasse des Empire State Buildings. Inklusive eines nächtlichen Gangs durch den Central Park. In den 1970er-Jahren nachts durch diesen Park in New York City, im Gepäck wahrscheinlich Schutzengel in Mannschaftsstärke.
Später gemeinsame Geschäftsreisen nach Hongkong und Singapur: Die dortigen Vertretungen begrüßen meinen Vater als ihren Vater, ich habe plötzlich noch zwei, drei Familien mehr am anderen Ende der Welt. Was ich auch von meinem Vater gelernt habe: Zuerst einmal auf der Landkarte, im Reiseführer verreisen, das Land kennenlernen, bevor ich überhaupt einen Fuß dort hineingesetzt habe. Mein Vater hätte das Internet zur Reiseplanung geliebt, aber es war schon zu spät für ihn.
Schließlich die Firma: Mein Vater hatte lange vor Steve Jobs eine Garage, das muss ja mal gesagt werden. Er hatte einen unfehlbaren Riecher, was die Welt braucht. Begriffe wie Unternehmenskultur, Change-Management und kundenorientiertes Marketing kannte er gar nicht und praktizierte sie doch. Oft saß ich in der Uni, hörte mir die Begriffe von den Professoren an und sagte zu mir: ›Kennst du doch schon irgendwie, haben wir doch zu Hause drüber gesprochen. ‹ Denn: Die Firma saß immer mit am Tisch.
Mein Vater kannte alle seine 200 Mitarbeiter mit Namen, ging jeden Tag durch die Fertigung, jeder konnte in sein Büro kommen: aufgebrachte Fahrer, frustrierte Monteure, demotivierte Abteilungsleiter, Verkäufer, die einen Auftrag nicht bekommen hatten. Geduldig hörte er sich an, was sie auf dem Herzen hatte, fand immer eine Lösung.
Das habe ich von meinem Vater als Unternehmer gelernt: zuhören, beide Seiten einer Medaille betrachten, Ideen für Lösungen einbringen. Heute würde man über meinen Vater sagen: Er hatte Coachingfähigkeiten.
Was ich von ihm Vater geerbt habe: seinen Humor. Wenn mein Vater hier in der Kirche sitzen würde, wäre ihm ein Mafiafilm eingefallen: Showdown zum Ende des Films. Ein Mafiaboss lässt den anderen umbringen. Dann die große Schlussszene: die Beerdigung. Mein Vater zitierte immer gerne die Erzählstimme im Film: ›Er war nicht nachtragend, er schickte einen Kranz.‹ Dass Sie jetzt lachen, hier in der Kirche, hätte meinen Vater sehr gefreut.
Für die Traueranzeige unserer Mutter vor sechs Jahren hatte meine Frau einen Spruch von Hermann Hesse gefunden. Auf dem Kalenderblatt von heute, ja genau, heute an diesem Tag, steht er wieder: ›Einschlafen dürfen, wenn man müde ist, und eine Last fallen lassen dürfen, die man lange getragen hat – das ist eine köstliche, wunderbare Sache.‹ «