Kapitel 23: Achtung Radfahrer, der Boden ist frisch gebohnert

Der Übergang zwischen dem ersten Verwaltungsgebäude und dem späteren Anbau war unmerklich. Im Gang des Anbaus sah man eine Klinkerwand, unverkennbar die frühere Außenwand. Ganz oben, der Montierende musste eine Leiter benutzt haben, war ein handgeschriebener Zettel mit kreuzweisen Klebestreifen an allen vier Seiten befestigt worden.

In Druckbuchstaben verkündete er: »Achtung Radfahrer, der Boden ist frisch gebohnert.« Der Chef ließ diesen Zettel, nur acht Meter von seiner Tür entfernt, nicht abhängen. Offenbar war er amüsiert. Mehrmals stand er vor der Wand, schaute nach oben, lächelte. Doch das Bild eines buckelnden Vorgesetzten, der nach unten tritt, hatte jeder vor Augen. Und kannte auch die »Führungskraft«, die damit gemeint war. Mein Vater wusste es ebenfalls und lud zum Gespräch.

Die Stimmung war schlecht, die Presse schrieb: »Eigentlich stimmte bei der Domo Knierim GmbH & Co. KG in Kassel alles: Ihre Produkte - Trennwände und Umkleidekabinen für Badezimmer, Schwimmbäder und Turnhallen - waren gefragt, und der Markt versprach auch in Zukunft gute Wachstumschancen. Trotzdem ging es mit der Firma nicht recht vorwärts. Das Problem: Intern krachte es gewaltig. Die einzelnen Domo-Bereiche kooperierten mehr schlecht als recht miteinander. Teamarbeit funktionierte kaum. Die Mitarbeiter identifizierten sich nicht mit ihrer Arbeit, den Produkten und schon gar nicht mit der Firma. Hinter vorgehaltener Hand klagten sie über die schlechte Stimmung. Das war 1986. ›Uns allen war klar, dass etwas geschehen musste‹, beschreibt Walter Knierim (61), einer der beiden Domo-Geschäftsführer, die Situation von damals. ›Nur was, das wusste niemand.‹«

Domo hatte keinen Pressesprecher, es sprach immer der Chef. Der eine Chef. Der andere saß in seinem Büro im anderen Verwaltungsgebäude und äußerte sich nie. Diesem war wichtig, immer links, »als Erster« zu unterschreiben. Chef 1 unterschrieb, Chef 2 sprach frei von der Leber weg mit den Medien.

Mein Vater erzeugte unbewusst schon damals etwas, was man heute als »Narrativ« bezeichnet: Beschreibe eine Problemsituation - und liefere die Lösung. Und so liest es sich auch im nächsten Absatz des Artikels: »Die Kasseler Domo etwa löste ihre Führungsprobleme mithilfe sogenannter Projektgruppen. Jede Gruppe mit drei bis zwölf Mitarbeitern trifft sich unter der Leitung eines selbst gewählten Moderators einmal im Monat in der Arbeitszeit, um aktuelle Probleme zu diskutieren. Aufgrund solcher Anregungen wurden etwa die Schichtzeiten probeweise geändert, um den Staus zu entgehen, und der Lärmschutz verbessert. Bisher größter Erfolg der Teams: Weil viele Mitarbeiter immer wieder die Enge in der Produktionshalle und die wenig anheimelnde Kantine moniert hatten, entschloss sich die Domo-Geschäftsführung, für zehn Millionen Mark neu zu bauen und dabei die Wünsche der Belegschaft zu berücksichtigen.«

Diese »Projektgruppen« hatte sich der Diplomarbeitsschreiber mit seinem betreuenden Professor ausgedacht. Dafür die »informellen Meinungsführer« abseits der Abteilungsleiter und Meister identifiziert. Als Moderatoren geschult. Jeden Monat gab es ab sofort eine bezahlte Arbeitsstunde pro Mitarbeitenden. Auf den Gruppentreffen konnte frei über jedes Problem gesprochen und Lösungen erarbeitet werden. Tatsächlich wurde auch über Klopapier debattiert. Und über die Arbeitsbedingungen im Werk. Die schließlich zum Neubau des Werkes in Waldau führten.

Im letzten Absatz des Artikels heißt es: »Domo hat im vergangenen Jahr mit 200 Leuten rund 35 Millionen Mark Umsatz erzielt; ein Resultat, mit dem Geschäftsführer Knierim durchaus zufrieden ist. Und nicht nur er - auch die Mitarbeiter sind es. Das Gesprächsklima im Hause ist jetzt offen: Es wird ungeniert, aber konstruktiv kritisiert. Für die Beseitigung von Missständen fühlt sich nun jeder persönlich verantwortlich.«

Es war nicht ganz so. Zwei Jahre nach dem Ausscheiden meines Vaters aus dem Unternehmen musste er vor Gericht als Zeuge in einem Betrugsverfahren erscheinen. Sagte aus, dass er viele Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte nichts gewusst hatte. Auch nichts geahnt hatte: »Ich glaube an die Ehrlichkeit meiner Mitarbeiter.« Schmunzelte, wenn sie einen Bierkasten unter dem Regal im Lager mit einem Fußtritt verschwinden ließen. Das war der größtmögliche »Beschiss«, den er sich in seiner aktiven Zeit hatte vorstellen können.

Jetzt vor Gericht schmunzelte er nicht. Wollte eigentlich gar nicht mehr wissen, was damals passiert war. Wollte in seiner ehrlichen Welt bleiben, war seiner Fürsorgepflicht als Unternehmer nachgekommen.

Doch die »Kinder« wollten es ihm nicht danken. Der Einkaufsleiter hatte mit einem Meister in der Produktion gemeinsame Sache gemacht und einen Workflow erfunden: Einkauf bestellt Aluminiumprofile —> Meisterei deklariert sie als Ausschuss —> beide verkaufen an einen Alteisenhändler —> Geld wird im Verhältnis 70:30 aufteilt. Dabei 70 Prozent für den Einkaufsleiter, er hatte schließlich eine höhere Position zu verlieren.

Nun verlor er den größten Bonus, den mein Vater zu vergeben hatte: das Vertrauen. Es gab eine Geldstrafe. Ausnahmsweise fühlte sich das Gericht diesmal verantwortlich für die »Beseitigung von Missständen«.