Kapitel 20: Schlüsselgewalt - Ein Vorgeschmack auf die Nachfolge?

Ich saß meinem Vater an seinem Schreibtisch gegenüber. Sein Gesicht hatte es etwas Offizielles. Nichts sagte er. Er sah mir in die Augen, dann lächelte er. Mit einem Ruck stand er auf.

Ging zum weißen Wandschrank, der sich über die gesamte Fläche der rechten Wand erstreckte. Er öffnete eine Tür, in einem Fach lag eine Geldkassette, daneben ein schmaler Ordner. Er nahm beides, stellte es auf den Schreibtisch vor sich hin. Diese Kassette war mir nicht bekannt. Sollte es für mich als Student mit 21 Jahren eine Barauszahlung geben? Nie gab es eine Barauszahlung, das Taschengeld wurde sehr früh schon auf das eigene Konto überwiesen. »Dann hast Du einfach eine gute Übersicht über Deine Finanzen« war der Standardbemerkung. Und im Subtext vielleicht »Es gibt sich nicht so schnell aus, wenn man erstmal zur Bank muss.«

Mein Vater öffnete mit einem kleinen Schlüssel von seinem Bund die Kassette. Darin lag mit das Wertvollste, was diese Firma zu bieten hatte: die Zugangsschlüssel zu allen Büros und allen Werken. Vor mich legte er den Generalschlüssel für Büro und Werk 2. Ich unterschrieb auf einem Blatt aus dem schmalen Ordner, vor mir in der Liste nur zwei andere Namen. Der Schlüsselchef sagte weiterhin nichts. Sofort fädelte ich den neuen Schlüssel an meinem Bund ein. Die Nachfolge wurde vorbereitet, der Junior erhielt Schlüsselgewalt.

Mein Zugang zum Werk 2, zur Produktion, war die eigentliche Neuerung. Fast niemand hatte diesen Schlüssel. Das hatte seine Gründe. In den 1970er-Jahren wurde einer davon an einen Mitarbeiter ausgeliehen, der Restarbeiten allein an einem Samstag erledigen wollte. »Schlüssel« und »allein« waren die Worte, die seit den Ereignissen an diesem Samstag nicht mehr zusammen benutzt wurden.

Wieder hatte mein Vater einen Anruf erhalten. Der Mitarbeiter war in das Presswerk geraten. Die Polizei vor Ort. Eine Obduktion wurde angeordnet. Er hatte in dem wenigen Blut, was man noch in ihm fand, einen Promillegehalt von 1,7. Ein Toter in Saudi-Arabien. Ein Toter in der Eugen-Richter-Straße in Kassel. Andere tödliche Arbeitsunfälle gab es in der 40-jährigen Geschichte von Domo nicht mehr.

An einem Sonntag ging ich durch das zweite Treppenhaus nach unten. Vor Kopf sah ich die Tür zur Produktion. Ich zog meinen Schlüsselbund hervor. Zweimal drehte ich den Schlüssel im Schloss, öffnete die schwere Eisentür. Der Eingang war etwas erhöht, ich sah in die komplette Halle. Das Fließband hatte mit halb fertigen Trennwänden angehalten, 15:45 Uhr am Freitag. Es lag dieser metallene, ölige Geruch in der Luft, der mich bis heute abstößt. Durch die blinden Oberlichter drang kaum natürliches Licht ein. Selbst nach dem Einschalten der kompletten Beleuchtung blieb die Halle in den Ecken dunkel. Überall stand Material herum. Der Hallenboden war dunkel, in Teilen auch schmutzig. An einer Maschine ein angeklemmter Zettel mit Fertigungsaufträgen, schwarz an den Rändern.

Ich durchwanderte die Halle bis zum Werkzeugbau. Dort war die Kurzversion einer neuen Fertigungsstraße zu besichtigen. In einem Rahmen waren parallel Achsen montiert, auf diesen – frei lagernd – kleine Rolle montiert. Ganz klar, hier sollten Trennwände superleicht fortbewegt werden. Ich probierte es aus. Perfekt. Niemand muss mehr etwas von einem Ort zum anderen heben. Ich befand mich in der Innovationswerkstatt unseres Betriebes, fühlte mich pudelwohl. Später las ich von Steve Jobs und dieser Halle mit lauter Tischen, auf denen die neuesten Produkte nur für ihn präsentiert wurden. Ich verstand sofort: Hier schlug das Herz des Unternehmens.

Vielleicht stand mein Vater auch manchmal allein im Domo-Werkzeugbau? Betrachtete die Produktionsneuheiten, war stolz auf seine Mitarbeitenden. Bekam Wochen später Besuch von einem Meister, der sich über den »Schrott« dieser Abteilung aufregte. Beruhigte ihn, erklärte die Neuerung. Hörte geduldig zu, was nicht funktionierte. Schrieb mit, hielt Rücksprache, lies ändern. Und schließlich gelang es: die neue Fertigungsstraße. Dort stand dann mein Vater nie. Was funktionierte, war uninteressant. Wo könnte verbessert werden? Da stand er.

Ich bekam einen weiteren Schlüssel und besiegte das Trauma des Alleine-Arbeiters während eines Ferienjobs im Werk 3 im ehemaligen Kadruf-Gelände in Kassel-Bettenhausen. Putzte allein die Maschine, betrachtete mein Werk, legte den Putzlappen zur Seite. Und verschwand. Es funktionierte ja wieder.

Die Nomenklatur der Werke 1, 2 und 3 verschwand Anfang der 1990er-Jahre, das Werk Waldau vereinte die Produktionsstätten. Es wurde nicht mehr gezählt, es wurde ein einziges neues Werk erschaffen. Als Berater habe ich bei meinem Kunden etliche Hallen betreten: vollständig weiß, vollständig sauber, die Gerüche wurden über riesige Absauganlagen vollständig entfernt. Und das neue Werk Waldau würde genauso aussehen. Endlich.