Kapitel 19: documenta mit: Beuys

Beitrag vom 22.03.2024

Die Führungskräfte waren zur Morgenrunde beim Chef versammelt. Er hatte einen neuen Schreibtisch, den »M1«. Gekauft am Wochenende direkt aus dem Tecta-Pavillon der documenta 8. An einen eckigen schloss ein runder Teil an, dort herum saßen die Abteilungsleiter. Laut Katalog war es ein »demokratischer Schreibtisch«. Sechs Stühle gehörten dazu, sie waren aus einem einzigen, roten Metallteil geformt mit schwarzer Sitzfläche.

Und diese Stühle kippten, wenn der Sitzende sich nicht konzentrierte und ausbalancierte. So bekam mein Vater ein unmittelbares Feedback, ob es seine Mitarbeiter interessiert, was er gerade sagte. Wer weg döste, knallte hin. Dann lachten alle, auch der auf dem Boden Liegende. Es war irgendwie ein großer Spaß. Nach ein paar Tagen konnte jeder Abteilungsleiter dort sitzen, ohne wegzukippen. Mein Vater war über das Wegkippen amüsiert, doch er wollte nicht quälen, ein Schalk zeigte sich in seinem Gesicht. Er lachte nicht, wirklich nicht.

Als Kind war ich mit meinen Eltern schon mit zwei Jahren auf der documenta. Diese weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst fand tatsächlich alle fünf Jahre für 100 Tage in Kassel statt. Was für ein Glück für meinen Vater und schließlich: Was für ein Glück für mich.

Es gab keine Berührungsängste zwischen den Künstlern und den Besuchern. Das Kasseläner Junge sprach mit Joseph Beuys an der Honigpumpe am Arbeitsplatz, mit Walter de Maria und seinen unermüdlichen bohrenden Mitarbeitern am vertikalen Erdkilometer, mit Dani Caravan am Environment Made of Nature Materials and Memories. Mit Stefan Wewerka auf seinen Stühlen und an seinem Schreibtisch, die beiden wurden sich schließlich handelseinig und freuten sich die Gesichter im Chefbüro.

Der kalifornische Künstler Harold Cohen war die ganzen 100 Tage anwesend, mein Vater unterhielt sich selbstverständlich auch mit ihm. Sie verstanden sich prächtig. Fast jede Woche besuchte ihn mein Vater, ich ging mit. Stand im Erdgeschoß der Orangerie, beobachtete die Besucher. So mache ich das auf jeder documenta bis heute. Mit einer Dauerkarte in der Tasche sinkt der Stress, überhaupt etwas (außer den Besuchern) angucken zu müssen.

Am letzten Tag schenkte ihm Mister Cohen aus San Diego das einzige Bild, was der Computer gemalt hatte. Gleich am Eröffnungstag war es entstanden, dann der Computer zusammen gebrochen und nicht wieder auferstanden. Gemeinsam rollten sie es zusammen, es war 4 x 8 Meter groß. Zur Orangerie Rückseite gab es einen Ausgang, ich trug vorn, mein Vater hinten. Wir standen zwischen der Hessenkampfbahn, so heißt der Sportplatz bis heute, und der Orangerie. Gingen den schmalen Grünstreifen entlang zum Auto. Im Wagen gab es eine kleine Klappe zwischen dem Kofferraum und den Rücksitzen. Da steckten wir die Rolle durch. Die Konstrukteure dieses Autos hätten sich nicht träumen lassen, dass ihre Ski-Klappe mal ein künstlerisches Unikat transportieren würde.

Der Mundartbewahrer Walter und der Regisseur Knierim fanden auf dieser documenta 6 für einen genialen Film zusammen. Die Aktivitäten der Künstler wurden mit Kasseläner Platt kommentiert: »Das ist doch der Beuys, der ahle Schmaggauge.« Wir sahen im Super-8-Film meine Mutter mit dem Hutträger vollkommen entspannt plaudern, begleitet von einer Frage ihres Ehemanns auf der Tonspur: »Ob häh sinnen Hud au im Bedde aufbehäld?«

»Jeder Mensch ist ein Künstler«, sagte Joseph Beuys und meinte es ganz im Sinne meines Vaters. Der in seinen Filmen kreativ war, lebenskreativ war, ein Künstler seines Lebens. Sein Film »Ein Kasseläner auf der documenta« und die »documenta-Schnuddelabende« mit seinem alten Freund Arno Siebert im Verein Kanu-Sport-Kassel wurden Kult. Sogar der Marketingleiter der documenta X war zu einem Abend an der Fulda eingeladen und hatte vorsichtshalber seine mobile Übersetzungsanlage mitgebracht. Mein Vater kasselänerte die Fragen, der Experte wartete auf die Übertragung in Hochdeutsche. Nickte und antwortete brav. Das Publikum lachte und tobte, die Fragen wurden immer absurder. Jeder im Raum kannte die beiden auf dem Podium aus den letzten 40 Bootshausjahren: Vater und Sohn.

War dieser Gag unbewusst eine Grenzziehung zwischen den Rollen? Der Unternehmer hier und der Freiberufler dort? Brauchte es inzwischen eine Übersetzung zwischen den Welten?

Zwanzig Jahre hing das erste (und letzte) Bild, das ein Computer auf der documenta allein gemalt hatte, bei uns im Esszimmer an der Decke. Als wir das Elternhaus ausräumten, rief ich das documenta-Archiv an, sechs Männer erschienen und nahmen es in einer komplizierten Konservatorenprozedur mittels Abstützung und Querlattung ab. Das Papier war brüchig geworden. Es gab kleine Löcher von den Sektkorken, zu Silvester nach oben ins Computerbild abgeschossen. Zwischen der Decke und dem Papier fanden die Korken einen Platz. Beulten die Zeichnung ein wenig aus. Zeugten von der Feierlust meiner Eltern mit ihren Freunden.

Jetzt regneten die Flaschenverschlüsse auf die sechs Männer herunter. Sie waren mit der Verpackung des Kunstwerks beschäftigt, bemerkten die Sektkorken kaum. Ich hob sie einem nach dem anderen auf und steckte sie in meine Hosentasche.