Kapitel 18: Unter der Brücke landen
Beitrag vom 15.03.2024
Die Monteure hatten auf der Baustelle die Bohrlöcher für die Einsteckfüße der Sanitäranlagen gesetzt. Und zu tief gebohrt. Die Fußbodenheizung angebohrt. Das Wasser lief aus, durch die Decke ins nächste Stockwerk. Tagelang blieb es unentdeckt, weitere Stockwerke standen unter Wasser. Unsere Firma war wahrscheinlich nicht versichert, Anwälte des Bauherrn sprachen von »grober Fahrlässigkeit«.
Jeden Monat beugte sich mein Vater über die Computerausdrucke der Einnahmen und Ausgaben. Das Endlospapier hatte Zeile für Zeile erst einen weißen, dann einen grünen Hintergrund. Der Druck geschah mit dem Neun-Nadel-Drucker. Die A3-Bögen waren gefaltet und in einer Mappe am oberen Rand geheftet. Um sich einen Überblick zu verschaffen, klappte man die Doppelseite auf. Im A2-Format war nun das Desaster zu sehen. Es mussten Rückstellungen gebildet werden, um den möglichen Schaden regulieren zu können. Fast den gesamten Gewinn fraß das auf.
Als Kind prägte sich mir ein einziges Bild ein, das die Angst meines Vaters verdeutlichte und auch meine Angst bis heute illustriert. Dieses Bild beschrieb er sehr anschaulich, er hatte es auf seinen Faltbootfahrten mit seinen Freunden in Paris am Ufer der Seine gesehen: Nachts schliefen die Wohnungslosen dort unter den Brückenarkaden, zudeckt mit Zeitungspapier.
Dorthin projizierte sich mein Vater, es konnte jederzeit geschehen, schon morgen konnte es soweit sein: das Erwachen unter einer dieser Brücken, die völlige Verarmung. Das erzählte er uns am Abendbrottisch. Schweigen. Wir waren bestürzt, jedes Wort, jedes Bild war für uns vollkommen realistisch. Wir wohnten in einer Villa, hatten zwei Autos in der Garage, ein Schwimmbad im Keller - und schon morgen war dies alles verloren. Genau das konnte geschehen, die Monteure traf keine Schuld, sie wussten es nicht besser. Mein Vater hätte es voraussehen müssen, wie immer. Einen Anschlag für den Bohrer erfinden, eine Anweisung schreiben, noch genauere Technische Blätter erstellen müssen.
Die Angst, alles zu verlieren, und die Verdrängung dieser Angst durch stetiges Entscheiden und Handeln begleiteten die Familienunternehmenfamilien auf Schritt und Tritt. Seit das Wasser durch die Etagen des Neubaus gewandert war, stellten wir unsere privaten Investitionen so gut wie ein. Ein Hocker im Bad fehlte, eine Neuanschaffung kam nicht infrage. Meine Mutter leerte eine Pfandsprudelkiste der Deutsche Brunnen, dreht sie um, nahm Maß und nähte eine Husse aus Stoffresten drum herum. Der Hocker mit lila Bezug war fertig. Alles konnte geschehen, die Firma war vorbereitet, die Familie war vorbereitet.
»Jetzt kommt‘s Geld von der Post.« Mitnichten war das der Geldbriefträger und Glücksbote Walter Spahrbier aus der Sendung Der große Preis, der in historischer Postuniform die Rente brachte. Mein Vater als Unternehmer bekam sicher keine. Vielmehr meinte er mit seiner Ansage das dicke Ende, dass noch kommen würde. In Gestalt eines höchstrichterlichen Schuldspruchs vielleicht.
Sechsunddreissig Computerausdrucke, drei Jahre, dauerte es zum Freispruch. Die Firma traf keine Schuld, die Fußbodenheizung war nicht tief genug im Boden verlegt worden. Der Hocker im Bad blieb weitere 20 Jahre dort stehen, sein Inneres schien vergessen. Doch meine Mutter erinnerte sich sicher genau.