Kapitel 16: Firmenschild im Portemonaie

Auf dem Weg in den Skiurlaub in den französischen Alpen gab es für jede Strecke die gleichen Stopovers: Zuerst wurde auf der A5 hinter Frankfurt die Raststätte Gräfenhausen angesteuert, meine Schwester und meine Mutter gingen nach links in die Damentoilette, mein Vater, mein Bruder und ich nach rechts. Auf der Strecke sollte möglichst die eigene Produktion genutzt werden.

Wir standen an den Urinalen, geteilt durch das Domo-Top-Produkt: die Schamwand. Hinter uns die Toilettenkabinen, unverkennbar ebenfalls Domo. Die Ingenieurskunst meines Vaters bewies sich in der kleinen Anzahl der Einsteckfüße, je weniger, umso besser: die Putzkolonne konnte schneller darunter hindurchwischen. Bis heute erkenne ich die Domo-Sanitärkabine durch den Blick auf die Einsteckfüße, auf die Drückergarnitur außen, auf den Haken und auf den Toilettenpapierhalter (eine Sonderanfertigung des Herstellers HEWI). In der Kasseler Backstube in der Kochstraße ist das Modell ZF aus den 1970er-Jahren verbaut, die Trennwände nach 50 Jahren wie neu, orange natürlich.

Getoppt wurde die Anzahlminimierung der Einsteckfüße nur durch eine weitere Erfindung, das Modell NFH. »H« stand hier für hängend und meint: gar keine Einsteckfüße. Was sich hinter »NF« verbarg, ist mir bis heute schleicherhaft. Mein Vater liebte diese Abkürzungen. Er erfand noch ZF, KA, KS und RS. Und klärte nie auf, was sie meinten.

Die Toilettenpapierhalter entdeckte ich immer wieder, zum Beispiel bei einem Besuch auf dem Lande bei der Schwester meiner Frau. Deren Vater war bei Domo im Lager beschäftigt. Die Ankündigung meines Besuches hatte wohl leichte Panik verursacht, denn überall im Haus fanden sich Trennwände, Haken und eben Toilettenpapierhalter aus der Domo-Produktion. Geschickt wurde ich durch Haus geleitet, doch ich konnte es nicht übersehen. Ich schwieg vielsagend. Beim Toilettengang musste ich dann doch lachen. Zwei Halter! Mein Vater hätte wohl genauso gelacht, nur lauter.

Bevor wir die Herrentoilette der Raststätte Gräfenhausen verließen, öffnete mein Vater sein Portemonnaie. Nicht um 50 Pfennig für die Schale der Toilettenfrau vorzubereiten. Er nahm aus dem hinteren Fach ein selbstklebende Domo-Schild heraus, schwarze Schrift auf silbernen Untergrund. Zog die Folie auf der Rückseite ab und platzierte das Schildchen mittig über den vier Kabinen auf der oberen Abdeckschiene. Die Monteure hatten das Finish wohl vergessen, kommentiert von meinem Vater mit »Verfall der Sitten«. Der Chef korrigierte den Fehler. Der schlussendlich wohl bei ihm selbst lag, die Baustellen-Checkliste musste optimiert werden. Vermerk im Kopf für den ersten Arbeitstag nach dem Urlaub.

Der Meister musste sich nach unserer Urlaubsheimkehr dann die Fehlendes-Label-Kritik anhören. Er nahm es mit Demut zur Kenntnis. Und nahm sich vor, Fräulein Schmidt zu fragen, wann wieder Urlaub geplant war und vor allem: auf welcher Strecke der Alte wohl fahren würde.

Kritik war beim Chef immer sachlich, Abwertung von Personen kam meinem Vater nicht in den Sinn. Das höchste der Gefühle waren die Zuschreibungen »Säckel«, »Doofmann«, »Doofie« oder - in Steigerung: »Ein schöner Doofmutz«. Benutzt nur dann, wenn er sich über jemand geärgert hatte. Außerhalb der Firma.

In der RTL-Sendung Undercover Boss verdingten sich die Chefs als Hilfsarbeiter und sollten möglich unerkannt bleiben. In einer Folge mit Sanitärwaren muss der verkleidete Direktor die Retouren aussortieren. Es fällt ihm schwer, etwas in den Müllcontainer zu werfen. Sein Einweiser sagt »Du musst schneller werden. Entscheide Dich, sonst kriege ich Ärger mit dem Chef. Schmeiß' es endlich weg«. Das qualvolle Gesicht des verhinderten Entsorgers sehe ich immer noch vor mir. Es war dasselbe Gesicht, was mein Vater gemacht hätte. Es brach ihm fast das Herz. So eine Verschwendung.

Eine Family Governance, heute Standard in Familienunternehmen, gab es nicht. Die Domo-Grundsätze sprachen von Zugehörigkeit, Ehrlichkeit, Gleichheit, Fairness und unausgesprochen: von Liebe.

Die Liebe zum Produkt durchdrang meinen Vater in allen Poren. Wo war die Liebe zur Familie? Wie drücke er das aus?