Kapitel 15: Die Stoppuhr in der Tasche vom Chef

Das Herz des Betriebes war die Produktion. Mein Vater stand gerade »am Band«, schaute seinen Mitarbeitern über die Schulter. Er berührte diese Schultern nie, Handschlag selten (Ausnahme: Jubiläum), manchmal wurde der Meister so begrüßt.

Es gab für ihn eine vollkommen andere Art der Wertschätzung: Er kannte jeden seiner Fertigungsmitarbeiter mit Namen. Mit Nachnamen. Auch die ganz Neuen. Alle hundertzwanzig in den Werken 1, 2 und 3.

Die Serienfertigung war die Erfindung meines Vaters. Ende der 1950er-Jahre wurde im benachbarten Baunatal von Volkswagen das zweitgrößte Werk Deutschland eröffnet. Er verlor auf einem Schlag die Hälfte seiner Facharbeiter - er konnte die VW-Löhne nicht bezahlen. Er war nicht beleidigt, dass sie gingen, wusste um die ökonomischen Chancen einer Lohnverbesserung. Karriere konnte er nicht bieten, die fünf Meisterposten waren langfristig vergeben. Doch auch mit der, an einen Konzern verlorene Hälfte blieb er in Kontakt. Der Redakteur der Hessischen Allgemeinen Rainer Merforth titelte auf der Wirtschaftsseite »Als VW die Arbeiter wegholte, musste etwas passieren.« 

Zunächst passierte im Kopf meines Vaters das, was Unternehmer auszeichnet: das Denken von Unmöglichem, das Größenwahnsinnige, das Rumspinnen. Er hatte sich durch ehemalige Mitarbeiter von der Fließbandfertigung erzählen lassen. Millionen hatte VW in Baunatal investiert, um Getriebe in Serie zu produzieren. Das musste in der Eugen-Richter-Straße doch auch möglich sein! Er besuchte den Meister im Werkzeugbau, seinen Technikbruder im Geiste. »Könnten die Stahlzargen nicht auch durch die Lüfte schweben, an unsichtbaren Fäden? Durch Tauchbäder wandern, an der Hallendecke trocknen? Und darunter die Fließfertigung der Trennwände: die Herstellung der Rahmen, der Deckel aus Stahl, das Schäumen mit PU? Könnt Ihr so was bauen in Eurer Werkstatt?«

Sie konnten. Wurden belächelt, als der Probebetrieb begann. Hielten die, in Nordhessen als »Mähren« bezeichnete Kritik an allem und jeden aus. Verbesserten stündlich, lagen unter den Bändern. Fluchten, wenn es stockte. Lachten, wenn es lief.

Schon wenige Wochen nach Anlauf der Fließbandproduktion passierte im Kopf meines Vaters noch etwas typisch Unternehmerisches: das Weiterdenken, das Optimieren. Während die anderen noch im Erfolg badeten, lief das Knierim-Hirn unter seinen gelockten Haaren mit Rotstich schon wieder auf Hochtouren.

Denn wer genau hinschaute, entdeckte eine Besonderheit bei den Bandbesuchen. Mein Vater schaute in unregelmäßigen Abständen kurz in seine rechte Handinnenfläche, ehe die Hand wieder in der Jacketttasche verschwand. Wer noch genauer hinschaute, sah, dass sich die Finger danach in der Tasche bewegten. Sich kurz gegen den Stoff drückten. Ebenfalls unregelmäßig.

Zu Hause, auf dem Schreibtisch meines Vaters, hatte ich Tage vorher eine Stoppuhr gesehen. Ich kannte sie vom Lehrer aus dem Sportunterricht. Der trug normalerweise zwei an Kordeln um den Hals, wenn wir auf dem Sandplatz am Fuße des Schulhofes der Albert-Schweitzer-Schule gegeneinander antraten. Wir liefen über die Ziellinie, der Sportlehrer drückte auf die Knöpfe, riss die Uhren zur Seite, lies uns auslaufen. Zwei Zeiten für den 100-Meter-Lauf auf der Aschenbahn wurden in eine Liste notiert.

Doch wofür brauchte mein Vater diese Art von Uhren? Ließ er seine Mitarbeiter durch den Betrieb laufen? Trainierte er selber? Ich sah meinen Vater nie »Sport machen«, dafür hatte er einfach keine Zeit. Ich nahm die Stoppuhr vom Schreibtisch. Schwarzes Gehäuse, weißes Zifferblatt, schwer lag sie in meiner Hand. Drückte auf den Kopf, der lange Sekundenzeiger raste los.

Mein Vater kam ins Arbeitszimmer, er hatte kurz in der Tür verweilt und mich beobachtet, sah mein Interesse und lachte. Freute sich über mein Interesse. Erzählte eine Geschichte:

Früher, wenn er am Band stand, schaute er auf seine Armbanduhr, um die einzelnen Fertigungsschritte einer Trennwand zeitlich zu erfassen. So konnte er die Kapazität pro Stunde, pro Tag, pro Woche, pro Jahr errechnen. Das Problem aber war, dass die Mitarbeiter unmerklich ihr Tempo verlangsamten, wenn mein Vater auf seine Armbanduhr sah. Sie steigerten nicht die Taktzahl, sondern verringerten sie. Wenn sie schneller für den Chef arbeiten würden, hätten sie ein neues Benchmark gelegt. Kluge Mitarbeiter wussten, was das bedeutet.

Meinem Vater war die Verlangsamung des Arbeitstempos nicht entgangen. Die Armbanduhr musste weg. Die Stoppuhr in der Tasche sahen die Mitarbeiter nicht mehr. Sie arbeiteten weiter wie sonst. Mein Vater schaute aufs Band, drückte auf den Knopf in der Tasche, ging die kleine Stahltreppe hinauf aus der Halle, schaute im Gang auf die Stoppuhr. Und hatte seine Taktzahl. Nur diese, er wollte gar keine Steigerung der Fließbandproduktion. Er wollte einfach nur die richtige Zahl.

Mein Bruder hat die Stoppuhr bis heute.

(Foto: Wikepedia Commens Wouterhagens)