Als Jugendlicher mit 16 Jahren war ich bereit für die vollständige Verwendung als Urlaubsvertretung. Ich lernte die Bedienung des Telex-Gerätes im Erdgeschoß im Kabuff der Empfangsdame Frau Leschhorn kennen.
Zuerst auf der Tastatur den Text tippen, der auf einem Lochband gespeichert wurde. Dann das Lochband einspannen, die Telex-Nummer mittels Wählscheibe anrufen und starten. Eingehende Telexe mussten sofort der Geschäftsleitung übergeben werden. Der eigentliche Empfang war unkompliziert – es kam sowieso fast niemand zu uns. Im Schreibtisch unterhalb des runden Sprechglases (»Bitte hier sprechen«) befand sich der Zugang zur Domo-Schatzkammer: die Schlüssel für acht metallene Schränke und dem Büromaterial für die gesamte Verwaltung. Öffnete man eine der Ali-Baba-Kammern, ergossen sich Tesafilm, Uhukleber, Locher, Hefter, Stifte, Lineale, Leitz-Ordner, A-Z-Register über den Herrscher der Schlüssel. Die Kunst war, immer nur wenig zu nehmen für den Eigengebrauch. Bis heute quält mich mein schlechtes Gewissen dazu.
Mit 16 waren die Versicherungsbedenken dann passé, es ging in die Produktion. Nicht gleich die im Akkord, sondern die für Sondermaße in einer Produktionsstätte abseits des Hauptwerkes - Werk 3 in der ehemaligen Kadruf-Fabrik in Bettenhausen. Eine kleine Truppe von Mitarbeitern, ein Meister, mehrere Maschinen, ein eigener Kosmos.
Aufstehen 4:30 Uhr, Straßenbahn Linie 2 Richtung Lindenberg zur Haltestelle Leipziger Platz, Fußweg 10 Minuten. Dienstbeginn 6 Uhr, Frühstückspause um 9:15 Uhr. Ich kann mich ganz genau an die 9:15 Uhr erinnern, denn es erschien mir unmöglich, noch bis zur Mittagspause weiterzuarbeiten. Ich war völlig erledigt! Mit zitterten die Hände, ich konnte meine Pausenbrote kaum greifen oder essen. Stumm saß ich da, um mich herum diese schwer arbeitenden Leute. Wie machten die das? Teilweise waren hier Menschen, die schon 20 Jahre bei meinem Vater beschäftigt waren! Laut wurde geredet, kein Wort über mein Zittern, eher so eine Art verschworene Gemeinschaft, in der der Sohn vom Chef einen Platz bekam. Nach dem Frühstück wurde mir das kraftschonende Arbeiten gezeigt, ich hielt drei Wochen in den Sommerferien durch, stolz auf mich und meinen Einsatz. Nie werde ich dieses Team, diese Menschen vergessen.
Sehr interessiert zeigten sich die Kollegen an der Höhe meines Stundenlohns, den ich, ohne zu zögern, mit 7,50 DM angab. Ungläubiges Staunen, das war aber schon wenig, zumal auch noch auf Lohnsteuerkarte. Ich konnte es erklären: Von meinem Vater war ich als Ungelernter eingestuft worden, keine Ausbildung, kein Abschluss.
Ohne es zu ahnen, verschaffte ich mir an einem Samstag den Respekt der Kollegen. Mir war aufgefallen, dass hinter den Holzverarbeitungsmaschinen Sägespäne liegen geblieben waren. Niemand hatte Zeit, sich darum zu kümmern. Ich informierte den Meister, dass ich einen Samstag lang die Maschine putzen wollte. Er willigte ein, zeigte mir, wie man Sägespäne mit Altöl vermischt und damit den Industriebogen wischt. Dann sagte er nichts mehr, warte ab, bis ich die Samstagschicht absolviert hatte, schaute auf meine Stempelkarte, fand keinen Eintrag, nickte zufrieden und teilte seiner Mannschaft mit, was passiert war.
Und ich lernte, zur Seite zu treten und die Solidarität der Kollegen zu spüren. Die aufgestapelten Trennwände im Werk 3 in Bettenhausen kamen in Bewegung. Ich wollte mich dagegen stemmen, sie mit meinen Händen aufhalten. Der Meister kam aus dem Nichts und zog mich weg. Der ganze Stapel der frisch produzierten Wände war kaputt, alles lag durcheinander auf dem Boden, der Meister schaute drauf und sagte: »Dafür lohnt es sich nicht, drunter zu liegen.« Alle Kollegen kamen und halfen beim Aufräumen. Es wurde beim Frühstück und danach nie wieder darüber geredet. Es konnte jedem passieren, es passierte auch dem Sohn vom Chef und so war ich für diese Wochen einer von ihnen.
Foto: Thomas Bröker, Wikimedia Commons