Kapitel 12: »Scheisse« rief der Grossherzog

In den Ferien vertrat ich manchmal die Frau, die die Durchschläge sortierte. Vor mir standen, übereinander gestapelt, die Plastiksortierfächer. Die Namen der Außendienstler waren mit einem Dymo-Prägegerät ausgedruckt worden, je nach Können des Ausdruckenden traten die weißen Buchstaben gleich hell aus dem schwarzen Untergrund hervor, in einer Reihe. Oder die Buchstaben versprangen in der Zeile, ein »I« war kaum zu sehen.

Um 17 Uhr 15 wurde jedes Fach von mir geleert und in einzelne Umschläge gesteckt. Schon da war klar, wer der King war. Denn der hatte den dicksten Umschlag. Ein brauner Umschlag, der hinten einen Falz hatte und sich dem dicken Papierstapel anpasste. Oft München, also Bayern. Ich legte die Umschläge auf die geeichte Postwaage, schaute in die Portotabelle, trat zur Frankiermaschine, einer Francotyp-Postalia (ich hoffte tief in meinem Innersten, dass nicht dieser Typ aus Spanien gemeint war). Ich stellte die Portosummen mithilfe von kleinen Stiften ein, die auf der Maschine von links nach rechts verteilt waren: Hunderter-, Zehner- und Einer-Markschritte, dann noch die Pfennigschritte.

In einem Plastik-Einkaufskorb wurde die Ausgangspost gebündelt. Blick zur Uhr: 17:30 Uhr. Perfekt. Gang vom Werk 2 nach rechts über die Eugen-Richter-Straße und dann nach links zum Rhönplatz, dort ein winziges Postamt. Eine Postbeamtin hinter einer Glasscheibe. Kein Gruß, nur Nicken. Links neben den Schalter die Ablagefläche für die vorfrankierten Sendungen. Die Uhr im Schalterraum: 17:40 Uhr. »Leute, nehmt Rücksicht auf die Beamtin, sie muss noch die Umschläge nach hinten tragen. Feierabend ist Punkt 18 Uhr.« Dies wurde ohne Sarkasmus gesagt.

Es gab auch die Möglichkeit, vorfrankierte Sendungen direkt in Briefkästen einzuliefern. Dafür wurde ein Extra-Briefumschlag in Rot benötigt, auf dem quer Achtung: Vorfrankierte Sendungen zu lesen war. Diesen Umschlag benutzte mein Vater, wenn er samstags noch eine eilige Sendung verschicken musste, die am Montag den Empfänger erreichen sollte. Auch er stellte mit den kleinen Stiften ein, 2 Mark 80 sollte es kosten. Zack, schnell musste es gehen. Selbstklebenden Wertbogen hineinstecken und mit der Handkurbel ausdrucken. Auf dem Umschlag kleben. 280 Mark! Mein Vater hatte sich bei der Einstellung der Stifte in den Zeilen vertan. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.« Er griff zur Schere, schnitt den bereits verklebten Bogen aus, schrieb eine Notiz an die Poststellenmitarbeiterin, die sich um die Rückvergütung kümmern sollte. Das, vorher gekaufte Postguthaben, war schwer zur Neige gegangen. 2 Mark 80 gab es schließlich noch her.

Jeden Wochentag mussten diese Umschläge zu diesem kleinen Postamt in Helleböhn. Das Lebenselixier des Außendienstes waren die Angebotskopien. Dann setzten sie sich ans Telefon, dann setzten sie sich in Auto. Kämpften um jeden Auftrag. Fixum plus Provision. Jeder war seines Glückes Schmied. JEDER war ein potenzieller Kunde, mit niemanden sollte man es sich verscherzen. Immer in Kontakt bleiben, nachfragen, anrufen, zum Geburtstag gratulieren, Firmenfeiern besuchen, anrufen, einen schönen Tag wünschen, ein schönes Wochenende, Samstagmorgens beim Bäcker grüßen, am Montag eine schöne Woche. Anrufen. Anrufen. ANRUFEN.

Auch nannten wir die Außendienstleute nur beim Nachnamen. »Schmidt kommt heute nach Kassel«, »Dierichs war noch nicht beim Kunden«, »Mehring wollte doch anrufen«, »Schliebel hat den Auftrag«.

Einmal im Jahr: die Außendiensttagung. Zum ersten Mal war ich heute dabei. Zwei Tage dauerte es immer. Denn das Essen am ersten Abend war der Bonus für den Außendienst. Da wurde groß aufgefahren. Beim Grischäfer in Bad Emstal in der Ritterküche. Dort aßen alle mit den Händen. Hatte man gehört. Und es stimmte.

Mein Vater besuchte den Gastronomen 15 Jahre später auf seinem Altersruhesitz in Lanzarote. Ich hatte mit meinen zwei Kompagnons auf der Insel eine Zweigstelle unserer Beratungsfirma eingerichtet. Mein Vater freute sich sehr, ihn zu sehen. Vorher war noch gemunkelt worden, dass der Ex-Gastronom meist nackt in seiner Garage malte. Stimmte aber nicht, er begrüßte meinen Vater in »voller Montur«. Fragte ihn nach seiner momentanen Verfassung. Antwort meines Vaters in Zitat-Reimform: »Scheiße rief der Großherzog, als das Heer vorüberzog.« Und sein Lieblingsgastronom Erich Holzhauer antwortete: »Scheiße, Scheiße, dreimal Scheiße, sprach auch die Herzogin ganz leise. Und sie hatten beide Recht, denn das Heer war reichlich schlecht.«