Kapitel 11: Der Kunde ist Gott

Kundenbedürfnisse landeten in der Eingangsmappe des Chefs, die mit einstündiger Verspätung am Morgen aus der Buchhaltung eintraf. Vorher las sie der andere Chef, so war es mit dem Vater dieses anderen Chefs verabredet worden. Zur Seite stand ihm ein Prokurist, der peinlich genau auf diese Reihenfolge achtete.

Fräulein Schmidt ging jeden Tag von Werk 2 über den Glöcknerpfad zu Werk 1, stieg das 1950er Treppenhaus nach oben, klopfte bei der Buchhaltung an, wurde eingelassen. Die Mappe vom Prokuristen als eine Art Hostie übergeben, von der Chefsekretärin mit beiden Händen empfangen. Rückzug ins Werk 2, dem heimlichen Zentrum der Macht.

In den Ferien vertrat ich Fräulein Schmidt bei der Übergabe und schaute auf den Rückweg in diese kostbare Mappe. Gleich vorn lag ein geöffneter, leerer Briefumschlag, die Briefmarke war nicht abgestempelt. Der Prokurist hatte dies auf dem Umschlag markiert und mit der Notiz »Bitte in der Poststelle wiederverwenden« versehen. Eine gestochen scharfe Schrift, Jahrzehnte trainiert im Ausfüllen von betriebswirtschaftlichen Auswertungslisten. Schnell schloss ich die Mappe wieder und brachte sie ins Werk 2 über die Parkplatzabkürzung. Kunden duften nicht warten, am Nachmittag ging die Post wieder raus, am nächsten Morgen rief der Außendienstler an - oder klingelte gleich vor Ort. Der Kunde ist König.

Lag die Mappe im Chefbüro auf dem Tisch, wurde sortiert. Die Anfragen landeten in der Mappe für die Angebotsabteilung. Der Leiter dieser Angebotsabteilung öffnete die Mappe und sortierte die Kundenbedürfnisse zu seinen Mitarbeitern, je nach Komplexität. Je länger sie zugehörig waren, je höher durfte diese Komplexität ausfallen. Jeder seiner Mitarbeiter saß in einem Einzelbüro und kam stündlich nach vorn, um in sein Eingangskörbchen zu schauen. Zwei, drei Anfragen behielt der Leiter der Angebotsabteilung für sich, das Futter für sein Tageswerk, für seine sinnvolle Existenz.

Die Angebote wurden schon früh maschinell mit der IBM /36 (gesprochen »Strich sechsunddreißig«) erfasst. Es gab keine Möglichkeiten der Angestellten, ein Angebot zum Schluss noch einmal anzuschauen und eventuell zu korrigieren. Der Abteilungsleiter wusste, warum: »Beim Knierim gibt es keine Fehler und somit ist diese Option auch nicht vorgesehen«. Der Chef wurde von ihm nur beim Nachnamen genannt. Das beruhte auch Gegenseitigkeit. Bei uns zu Hause am Abendbrottisch sprach mein Vater von »Bassler«, »Reimann«, »Siebrecht«.

Ohne die Möglichkeit einer Korrektur musste jedes Angebot zuerst ausgedruckt, auf Fehler durchgesehen, als Variante 2 kopiert und dann einfach als neu bearbeitet werden. Mein Vater wusste davon nichts. Am Arbeitsplatz gab es keinen Drucker, der stand eine Etage tiefer, im Druckerraum. Ein Neun-Nadel-Drucker druckte alles auf Endlospapier, der Lärm war unerträglich. Eine Mitarbeiterin riss die Seiten inklusive zweifachem Durchschlag auseinander, sortierte sie den Abteilungen zu. Dann nahm sie alle Ausdrucke der Angebotsabteilung mit nach oben, legte sie in das Fach des Abteilungsleiters. Der schaute sie kurz durch und sortierte sie wieder in die Posteingangsfächer seiner Angestellten. Diese verließen wiederum regelmäßig ihre Zimmer, schauten ins Fach und nahmen die Ausdrucke mit.

Der Neun-Nadler arbeitete mit drei Durchschlägen. Der oberste, in weiß, wurde an den Kunden direkt verschickt, der grüne verblieb in der Angebotsabteilung, der gelbe ging an den jeweiligen Außendienstmann. Im Außen gab es keine Frauen. Auch die Ausdrucke probehalber wurde mit Durchschlag produzierte und entsorgt. Ich wagte es nicht, mir vorzustellen, wenn das der Chef wüsste. Oder was ich machen würde, wenn ich dann Chef wäre.

An meinen Vater dachte ich, als Jeff Bezos - der andere Chef - einmal auf sein Erfolgsrezept angesprochen wurde: Ob der Kunde König sei? Er antwortete: »Der Kunde ist Gott.«