Kapitel 10: Heimkommen auf den Millionenacker

Unser Haus mit der Nummer 19 lag in einer hufeisenförmigen Straße, ein Acker war umgewidmet worden, die Chaussee hieß nun »Vor der Prinzenquelle«. Oder im Volksmund: »Millionenacker«.

In der unmittelbaren Nachbarschaft: Ärzte und Apotheker. Schräg gegenüber ein Chefarzt, dessen Frau am Abend das Tor der Einfahrt für ihren Ehemann öffnete - er fuhr mit Mercedes hindurch - und wieder schloss. Ich beobachtete sie manchmal heimlich, denn die Gemahlin wartete schon mal eine halbe Stunde. An was dachte sie? Freute sie sich, wenn ihr Mann nach einem langen OP-Tag wieder heimgekehrte? In ihrem Gesicht sah ich keine Freude, eher Missmut. Der Chef der Kardiologie hupte schon mal, wenn es nicht schnell genug ging.

In der Familie amüsierten wir uns über diese Frau. Denn unsere Mutter war da anders. Mein Vater öffnete das Tor selbst. Doch war das gerecht? Auch er hatte tagsüber viele Operationen am offenen Herzen durchgeführt. Wenn ich sein Auto über die Einfahrt rumpeln hörte, schlenderte ich nach draußen und schloss das Tor. Eine Gegenleistung für mein Taschengeld. Wir leben schließlich in einem protestantischen Haushalt.

Ein einziges Mal wartete ich hinter dem geschlossenen Tor. Mein Vater sah mich, verstand den Gag, hupte. Ich senkte den Kopf, befleißigte mich mit dem Öffnen des Tores, klinkte die Öse bei einem Hämmerchen fest. Stellte mich daneben, Hände an die Naht. Mein Vater fuhr hinein. Kein Salut mit der flachen Hand, sondern zwei Finger, die von der Stirn weg langsam nach vorne stießen. Wir sind ja nicht beim, von der Mutter verhassten, Militär. Große Erheiterung im Inneren des väterlichen Fahrzeugs. Kurzer Halt. Der sensationell-elektrische Fensterheber fuhr nach unten, der Chef sprach das Wort zum Tage: »Vielen Dank, Sie können Feierabend machen.« Wir sahen uns in die Augen. Ich nickte, harkte die Öse aus dem Hämmerchen und schloss das Tor. Kurzer Komplettzusammenbruch meinerseits vor Lachen, ich hielt mich am Tor fest. Ich hatte dem nicht-kardiologischen Familienunternehmer, ganz sicher, eine Freude bereitet. Ganz hinten in der Einfahrt klapperten die Platten unter den 205er-Reifen der neuen S-Klasse.

Für einen kurzen Moment war ich der treue Mitarbeiter meines Vaters. Es fühlte sich irgendwie gut an, ich hatte meinen Platz. Sollte sich dieses Gefühl später wieder einstellen?

Am nächsten Tag, einem Samstag, die gründliche Untersuchung der Einfahrt: Sechs Waschbetonplatten hatten sich gesenkt, daher das leichte Klappern, wenn die Ränder der Platten aneinander rieben. Für meinen Vater ein auditives Desaster. Durch ein sogenanntes Steigband fielen Domo-Toilettentüren in den vorgesehenen Rahmen zurück. Alle Türen in der Reihe immer geschlossen. Da wackelte nichts. Da klapperte nichts. Ansonsten würde das vom Chef mit dem Vergleich »Wackelt wie ein Lämmerschwanz« kommentiert (in der Positiv-Variante: »Passt, wackelt und hat Luft«). 

In der Garageneinfahrt jedoch dieser Missklang, der keinen Aufschub duldete. Eine Schubkarre mit Sand beladen, die Platte angehoben, mit der Kelle Sand nachgeschoben, glatt ziehen, begutachtet, Platte wieder einlegt, begutachtet, noch nicht genug, Kelle Sand, jetzt genug, Wipptest mit den Füssen, nix bewegte sich mehr. Am Millionenacker kehrte wieder die samstagnachmittägliche Ruhe ein. Die Geschäfte schlossen um 12 Uhr 30. Alle Rasen waren gemäht, die Sportschau nahte. Oder musste Platz machen, die Mehrheit der TV-Klotzer bei uns war für Daktari. Clarence schielte, Judy schrie wie verrückt.