Kapitel 1: Tod im See

Das Telefon klingelte. Es war Sonntagmorgen, acht Uhr. Der graue Apparat mit Wählscheibe klingelte in der Küche, auf dem Schreibtisch meiner Mutter. Da hatte sie einen schmalen Platz, direkt neben dem Herd. Ein Schuhkarton stand dort, beklebt mit Stofffolie im Schottenkaro. Darin ihre Notizen, auf kleinen Zetteln. Zitate aus Büchern, die sie liest. Eigene Gedanken. Sätze, die sie gehört hatte.

Daneben das Telefonverzeichnis, in Kunstleder gebunden, mit dem Titel Wichtige Rufnummern. Das Register am rechten Rand hatte gelbliche Flecken, die Enden wölbten sich ein wenig hoch. Ungezählte Daumen hatten bei den einzelnen Buchstaben gestoppt, hatten die richtige Seite im Alphabet aufgeschlagen. Namen und Nummern waren mit Kugelschreiber in unterschiedlichen Farben eingetragen, selten war etwas durchgestrichen. Die Eintragungen folgten dem Prinzip Nachname, Komma, Vorname, Abstand, Vorwahl in Klammern, wieder Abstand, Rufnummer in 2er-Schritten aufgeteilt. Alle aus der Familie waren zuerst mit dem Familiennamen eingetragen, es folgten die Vornamen der Männer, dann die der Ehefrauen.

Es klingelte zehn, zwanzig Mal. Ich hörte meinen Vater aus dem Schlafzimmer in die Küche gehen. Er nahm ab, meldete sich mit Namen, seine Stimme war belegt, es waren seine ersten Worte an diesem Morgen.

Ich stand auf und ging ins Wohnzimmer. Ich hatte keine Ahnung, warum ich dort hinging und nicht in die Küche. Ich hörte, wie er eine kurze Frage stellte, dann folgtenuu lange Pausen, wieder eine Frage. Er bedankte sich, legte auf, kam ins Wohnzimmer, setzte sich mir gegenüber aufs Sofa und weinte.

Ich war zwölf Jahre alt und sah meinen Vater zum ersten Mal weinen.

Er weinte um einen Mitarbeiter, der in einem See in Saudi-Arabien ertrunken war. Er hatte ihn dorthin auf Montage geschickt. Dem Monteur war es an seinem freien Samstag zu heiß, er wollte sich abkühlen, lief an einem arabischen Verbotsschild vorbei, stieg ins Wasser, wurde von einer Unterströmung erfasst und ertrank. Am Ufer blieben seine Kleider zurück. Seine Kollegen fanden sie später, die Leiche trieb auf dem Wasser.

Fühlte sich mein Vater für diesen Tod verantwortlich? Er hätte dort unten an diesem Verbotsschild stehen, den Mitarbeiter aufhalten müssen. Vorher eine Anweisung schreiben, einen Arabischkurs zur Pflicht machen müssen. Was auch immer. Er hatte nicht vorausgesehen, dass es passieren könnte. Das machte ihn schuldig, deshalb weinte er. Es war sein eigenes Versagen. Er hatte einen Fehler gemacht.

Gleich würde er zur Ehefrau und den Kindern dieses Monteurs fahren müssen. Wie ein Kriminalbeamter die Todesnachricht an der Tür überbringen. Diese Frau würde ihn verantwortlich machen für den Tod ihres Mannes. Ihn anschreien und dann weinen. Er hatte sich nicht genug gekümmert.

Mein Vater weinte weiter, er bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ich traute mich nicht, ihn zu trösten. Ich blieb ihm gegenüber im Sessel sitzen. Er war in einer Welt, wo ich ihn nicht erreichte. Er war ganz bei sich in seiner Trauer und seiner Verantwortung.

Eine meine ersten Lektionen im Unternehmerleben: Du bist immer verantwortlich, auch wenn Du es gar nicht sein kannst. Du bist es einfach. Punkt.