Strahlender Sonnenschein auf Usedom. Mein Vater, meine Frau und ich schlenderten über die Promenade. Der typische Baulärm, ein Gemisch von Schlagbohrern, Anweisungen und Dieselgeneratoren, wehte uns entgegen.
Ich schaute auf meinen Vater: Er richtete den Oberkörper auf, beschleunigte seinen Gang. Bis er am Bauschild angekommen war. Die Einträge unter Bauleitung und Architekten interessierten ihn am meisten. Er griff in seine Brusttasche, fand nichts zum Schreiben. Es könnte ja sein, dass die Trennwandarbeiten noch nicht vergeben sind. Es sollte jemand Kontakt aufnehmen, nachfragen. Könnten wir uns die Telefonnummer merken?
Ein Unternehmer ist »24/7«. Mein Vater war »24/7/365«. Er konnte nicht anders. Der nächste Auftrag war greifbar, wurde erteilt, wurde erledigt. Hinterließ eine Lücke. Die sofort wieder gefüllt werden musste. Musste. Die Fertigungsbänder verziehen keine Lücke.
Die Mitarbeiter schauten in den Kalender, identifizierten die Brückentage, freuten sich über die zusätzlichen Urlaubstage und schrieben einen Urlaubsantrag. Mein Vater schaute in den Kalender, identifizierte die Feiertage und freute sich, wenn sie auf einen Samstag oder Sonntag fielen. Jeder zusätzliche Produktionstag war ein Gewinn, am schönsten war es, wenn das Jahr 366 Tage hatte. Die Löhne und Gehälter bleiben gleich, dividiert durch die Werktage erschien die Summe dank Schaltjahr kleiner. Oft hatte ich das Gefühl, diese Summe ging direkt vom privaten Stadtsparkassen-Konto meines Vaters ab.
Mich verblüffte, dass mein Vater die Summen im Kopf ausrechnen konnte. Sein Taschenrechner lag in der Schublade, wenn es genau werden sollte, für die Kommastellen, erst dann holte er ihn kurz heraus. Er schaute manchmal über die Angebote seiner Mitarbeiter, identifizierte die falsche Zahl und wies höflich darauf hin, zu überprüfen. Nie triumphierte er. Er hatte in seinem Kopf den gelben Stabilo-Textmarker genau auf diese Zahl angewendet, gelb strahlt sie und gelb ging gar nicht im Angebot. Schwarze Zahlen waren richtig.
Träumte mein Vater von Trennwandsystemen? Nie sprach er über seine Träume, seine Mutter hat schon gesagt »Träume sind Schäume«. Er verdrängte seine Erinnerungen. Sein Unbewusstes beförderte sie in der Nacht nach oben. In dieser kurzen Phase zwischen Aufwachen und Wachsein erinnerte er vielleicht den Traum, dann richtete er seinen Oberkörper auf, dreht die Beine zur Seite, erhob sich. Trat wieder ein in die Domo-Welt, memorierte seine Tagestermine schon vor dem Toilettengang.
Ging zum Briefkasten, holte die Hessische Allgemeine und die F.A.Z.. Machte sich dann einen Tee, setzte sich an den Esstisch und warf die Sorgenmaschine an. Die Sorgen um die Aufträge, die Fertigung, die Mitarbeiter, die Mitarbeiterfamilien, um uns. Sie trieben ihn an, diesen Tag anzugehen, sich ins Auto zu setzen und in die Firma zu fahren.
Führte ernste Gespräche, vergaß das Mittagessen und resümierte am späten Nachmittag: »Das Leben ist wie eine Klobrille. Man macht viel durch.« Kurz vor Feierabend, auf dem Heimweg, hielt er noch mal an, wenn er ein neues Bauschild sah.
Mein Vater, nun 76 Jahre alt, verweilte noch ein wenig vor dem Usedom-Bauschild. Seine blauen Augen strahlten. Dann wendete er sich ab, sein Oberkörper fiel wieder ein. Im schleppenden Gang, die Schuhe strichen über das Pflaster, ging er weiter.