Ich stand am Fenster im Büro meines Vaters und blickte hinaus. Zwischen dem lang gezogenen Verwaltungsgebäude und der Straße war der Parkplatz angelegt. Das Haus, ein Meter Böschung, die Autos parkten davor längs, die Zufahrt war von der Straße durch eine kleine Mauer abgetrennt.
Ganz am Ende dieser Zufahrtsstraße war der Parkplatz für meinen Vater. Es gab kein Schild dort, alle wussten, es ist sein Platz. Auch in seinem Urlaub blieb dieser Platz leer.
Schon von weiten sah ich den weißen BMW. Mein Vater kam eher später am Morgen ins Büro. Er wartete eine Lücke im Gegenverkehr der Eugen-Richter-Straße ab und fuhr mit Vollgas zwischen den längsparkenden Autos und der Mauer hindurch bis nach hinten. Der Vertriebsleiter beschrieb dies gerne mit »Knierim fliegt ein«.
Schrägparker mussten ganz an die Wand fahren, die Einflugschneise freihalten. Mein Vater fuhr bis zum Altglascontainer. Die Turbinen kamen zum Stehen. Der Kapitän stieg aus, lief zum Kofferraum und holte einen Karton mit leeren Flaschen heraus. Meine Mutter hatte ihn, wie so oft, mit der Entsorgung beauftragt. Er hielt diesen »Stalldienst« lange durch und weigerte sich schließlich einige Jahre später – die Getränkereste liefen ihm auch diesmal über den Anzugsärmel. Eines Chefes unwürdig, zumal es dann auch noch streng roch.
Ich sah am Gesichtsausdruck, dass mein Vater in Gedanken schon an seinem Schreibtisch war. Er nutzte den Nebeneingang, musste nicht an allen Büros vorbei, nur die kleine Treppe hoch, nach links und noch mal links, die zweite Tür. Er war nicht der Begrüßungstyp, er würde alle seine Mitarbeiter sowieso sehen an diesem Tag: aus der Konstruktion, der Arbeitsvorbereitung, der Angebotsabteilung, dem Einkauf und dem Vertrieb.
Sein Schreibtisch war aufgeräumt. Links die schwarze Mappe mit den Registern 1-31 und I bis XII. Diese Wiedervorlagenmappe war das Gedächtnis meines Vaters. Prall gefüllt, die Jahresplanung verteilt in die zwölf Fächer. Darin lagen Notizen, abgerissen von einem linierten Spiralblock. Oben waren die kleinen Abrisspunkte zu sehen, winzige Fetzen Papier dazwischen. Verfasst in einer kleinen Schrift, die nur er und Fräulein Schmidt entziffern konnten. Darin außerdem Zeitungsausschnitte der F.A.Z. für weitere Recherchen. Briefe, über deren Antwort nachzudenken war. Ein handschriftlich korrigierter Formularentwurf, das die Fixogum-Zeit noch vor sich hatte.
Am Anfang des Monats wanderte der Stapel aus einem der 12 Monatsfächer in die Tagesfächer, verteilt auf die Wochentage, Register 1-31. Jeden Nachmittag schlug mein Vater das Fach des nächsten Tages auf, bereitete sich vor, sortierte um.
Ich durfte in diese Mappe hineinschauen. Ich erinnere mich noch ganz genau, als dies zum ersten Mal geschah. Wir saßen uns gegenüber, mein Vater schob die Mappe herüber und bat mich, zuerst die Monatsfächer zu öffnen. Dann die Tagesfächer. Noch keine Fragen stellen, einfach schauen. In die Welt eintauchen. Das beschäftigte also den Chef.
Auf dem Schreibtisch noch eine Lampe und rechts das Telefon, der weiße Hörer war an einigen Stelle etwas schwarz. Da, wo die Hand hineingriff, der Handschweiß etwas vom Dreck gelöst hat. Denn manchmal musste mein Vater runter ins Werk, etwas aus Metall anfassen. Winzige Späne blieben haften. Zum Händewaschen blieb keine Zeit, auf dem kurzen Weg zurück waren zwei, drei Gespräche zu führen, der nächste Antworterwartende saß schon im Bürozimmer auf dem Besucherstuhl.
Er selbst hatte einen Bürostuhl mit vier Rollen. Der Hinweis des Einkaufs, dass dies sicherheitstechnisch nicht mehr erlaubt war (»Fünf Rollen«), verhallte ungehört. Der Stuhl tat es doch noch. Hinter ihm hingen in drei weißen Rahmen die Domo-Grundsätze – Richtschnur für unser Denken und Handeln. Wir hatten sie zusammen erarbeitet, mit allen Führungskräften in einem Workshop zusammen im Schlosshotel Wilhelmshöhe. Die Location musste dann schon mal sein. Dem Anlass entsprechend.
Um jeden Satz wurde gerungen: »Wir wollen aus eigener Kraft bestehen, unabhängig bleiben und uns mit eigenen Ideen weiterentwickeln« und »Die Qualität unserer Leistungen und die Bereitschaft zur fortwährenden Erneuerung wollen wir als wesentliches Element in unsere Arbeit einbeziehen«.
»Wir wollen« findet sich mindestes 20 Mal in dieser Verfassung. War ich damit gemeint? Wollte ich auch?