Coach con Corona

Mittlerweile ist er 58 Jahre alt und blickt auf fast 25 Jahre Coaching-Praxis zurück: Andreas Knierim, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Coach und Coach-Ausbilder.

Der gebürtige Kasseler, der im Familienunternehmen für Sanitärkabinen groß wurde, hatte recht früh erkannt, dass seinerzeit die Übernahme des väterlichen Betriebs keine Option für ihn darstellte. Die Verbundenheit zur Geburtsstadt Kassel zeigte sich nach dem Studium auch darin, dass Knierim mehrfach im Team der documenta arbeitete. Presse, Kommunikation und Marketing waren dabei seine Kernbereiche. Daran schloss sich die gemeinsame Arbeit als Unternehmensberater mit Kompagnon Gerdum Enders an. Acht Jahre führten sie gemeinsam eine Beraterfirma und agierten dabei in ganz Europa, bei großen Firmen und bekannten Marken (Swatch, Thonet, Vorwerk, Carrera, Vobis). „Spannend dabei war für mich von Anfang an, dass ich immer die Geschichten hinter den Köpfen unserer Klienten so interessant fand", sagt Knierim und spitzt dabei den Mund. „Die Menschen haben sich mir anvertraut." Inzwischen, über 500 Coachingklienten später, sitzen wir mit ihm in seiner Praxis in einem Jugendstilwohnhaus an der Wilhelmshöher Allee — im gebotenen Abstand dieser Corona-Zeit.

„Diese Zeit ist eine ganz besondere,”, setzt Knierim an und legt direkt nach: „denn das Verhalten jedes Einzelnen ist wichtig!" Im ersten Moment stutzen wir ein wenig, aber der Routinier entdeckt unsere nachdenklichen Stirnfalten sofort. Der Coach spielt auf die Ansprache von Angela Merkel an, die Mitte März ausgestrahlt wurde. „Die Kanzlerin hat es darin auf den Punkt gebracht: Es kommt auf jeden Einzelnen an!" Auch wenn wir seinerzeit davon ausgingen, dass sich diese Mischung aus Bitte und Feststellung von Merkel vor allem auf gesundheitliche Aspekte bezog, so erweitert Knierim deren Bedeutung. „Es ist eine Botschaft an jeden Einzelnen und betrifft die Bedeutung von jedem Einzelnen", erklärt er. Vor allem den Familienunternehmen aber auch Kleinbetrieben und Großfirmen hat vor allem die Krise, der Lockdown und alle damit verbundenen Rahmenbedingungen gezeigt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kein kleines Rädchen, sondern von Bedeutung sind.

Unbestritten stellt das Virus und seine wirtschaftlichen Auswirkungen für die Mehrzahl der Menschen eine riesige Herausforderung dar. Es gilt also herauszufinden, mit welcher Haltung und im Rückgriff auf welche Ressourcen und Erfahrungen man der Krise begegnen kann. Genau dort setzt Knierim an. Seine Handlungsempfehlung in drei Phasen. Es beginnt mit der Selbstreflexion. Fragen, wie: „Wie bin ich in dieser Situation?" und „Wo bin ich in dieser Situation?" bilden den Ausgangspunkt. Angesetzt auf die Corona-Problematik ergibt sich hier ehrlicherweise natürlich auch die Wahrnehmung von Angst. „Das ist völlig in Ordnung", so Knierim. Wichtig dabei ist nur, dass man sich klarmacht, dass nur ein Teil von einem selbst so reagiert. Daneben gibt es auch weitere Teile, die auch andere — vielleicht sogar gegenteilige — Reaktionen zeigen. Wie zum Beispiel Klarheit und Struktur. Diese Erkenntnis bildet die Brücke zu Phase zwei, der Selbstführung. Wichtigstes Merkmal hier ist, mit sich selbst in Kommunikation zu treten und die Teile meiner Persönlichkeit, die unterschiedlich reagieren, auch unterschiedlich zu führen. Ähnlich wie ein Trainer ein Team. Die dritte Phase schließlich ist die Selbstwirksamkeit. Entscheidend in diesem Teil ist das Bewusstsein über die eigenen Fähigkeiten und die erzielbaren Effekte. Knierim bebildert das ebenfalls mit der Metapher des Mannschaftssports: „Ins Rennen oder auf dem Platz werden nur die Teile des Teams geschickt, die zum Gegner, also zur Aufgabe passen!".

So einfach dieses Modell auch klingt, so selbstverständlich ist es für den Coach, das dabei auch Selbstzweifel mitspielen. „Und diese begreifen wir als professionelle Begleiter in unserer Arbeit!", so Knierim. Man nennt diese Umdeutung »Reframing« (von: engl. etwas einen neuen Rahmen geben). Sie ist damit Teil einer komplexen Bewältigungsstrategie, die sich nicht nur Unternehmerinnen und Unternehmer vornehmen. Nein: Es kommt auf jeden Einzelnen an. Wir alle haben es ja erlebt. Die letzten Wochen boten nicht nur Zeit für Netflix & Do-lt-Yourself-Projekte. Immer mehr Menschen berichten über das Innehalten, über Zeiten tief gehenden Nachdenkens. Damit ist ja der Einstieg zur Reflexion gemacht. Der erste Schritt des Drei-Phasen-Projekts ist damit im Grunde schon begonnen. Doch Knierim weist uns noch einen anderen Weg. „Sicher haben schon viele in diesem Zusammenhang von Resilienz gehört oder gelesen. Diese »Widerstandsfähigkeit« zu entwickeln, liegt natürlich auf der Hand. Im Kontext der Corona-Krise machen wir laufend neue Erfahrungen und brauchen deshalb eine Handlungsstruktur für diese Resilienz!" Darum erweitert der Coach die Reihe der Werkzeuge zum Umgang mit dieser Herausforderung. „Genauso wirksam wie die Widerstandsfähigkeit ist in diesem Kontext aber auch die Persistenz, also die Ausdauerfähigkeit. Wir erinnern uns an die ersten Tage, an denen die Gastronomie wieder unter strengen Auflagen eröffnen durften. Abstandsregeln und Hygienekonzepte bestimmten den Restaurantbesuch. Zahlreiche Gastwirte und Unternehmer haben aber mit der dadurch reduzierten Gästeanzahl immer noch Verluste geschrieben. Dennoch haben viele aus Leidenschaft und Berufung diese so wichtige Ausdauerfähigkeit bewiesen. Ein entscheidender Vorteil im Kampf ums wirtschaftliche Überleben. „Aus meiner Perspektive und vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen ist die Ermächtigung aus der gefühlten Ohnmacht der Schlüssel zum Weg aus der Krise!", fasst es Knierim zusammen.

„Schließlich gibt es zwei wesentliche Motive, um ins Handeln zukommen. Entweder ist es eine Notsituation oder einfach, weil ich es will!" Dabei schmunzelt der Coach und erzählt uns von den blitzenden Augen des Elon Musk, der als Tesla-Chef vor kurzem eine eigene Rakete ins All schickte und dem Start voller Enthusiasmus zusah. „Einfach, weil er es wollte!“, begeistert sich auch Knierim.

Diese herausfordernden Zeiten sind mindestens gut dafür, einem nächsten Schritt näher zu kommen oder sich eigene und auch neue Ziele zu setzen. Voraussetzung für diesen Blickwinkel allerdings ist es, sich selbst im Bezugssystem wahrzunehmen. Also im System der verschiedenen Bezüge aus Beruf, Familie, Gesundheit, Gesellschaft und vielem mehr. Um diesen Überblick zu erhalten, begibt man sich in die sogenannte Meta-Position, der Coach leitet den Klienten im »Dissoziieren« an. Dieser Begriff steht wörtlich für »Abtrennung« und meint in diesem Zusammenhang den Blick von oben, also abgetrennt vom Boden. In dieser Coaching-Herangehensweise steckt sehr viel Potenzial, um verstrickte oder verknotete Situationen besser zu überblicken und Lösungsansätze und Handlungsalternativen zu erkennen.

Am Schluss wird Knierim regelrecht nachdenklich. Er berichtet von einem Kontakt zu einem früheren Klienten. Dieser Unternehmer schilderte, wie sehr er inzwischen das scheinbar alternativlose Gesetz des stetigen Wachstums der Wirtschaft nunmehr infrage stelle.

Auch diese Haltung ist derzeit kein Einzelfall. Der Coach bringt es auf den Punkt: „Möglicherweise gilt das Prinzip von »Wachsen oder weichen« in Zukunft einfach nicht mehr! Denn gerade die Familienunternehmen fokussieren sich jetzt auf das sinnhafte Agieren in ihren Märkten und wollen einen gesellschaftlichen Beitrag leisten!“

Hier finden Sie das Pdf-Dokument des Artikels von Jens Thumser mit Fotos von Harry Soremski aus dem Magazin „34".